POLITIK

"Uns gehen hier über 100 Milliarden Euro verloren"

lw; 03.02.2025, 12:54 Uhr
Foto Plenarsaal Bundestag: Felix Zahn/photothek; Foto Kandidatin: Grüne Oberberg/Dennis Börsch.
POLITIK

"Uns gehen hier über 100 Milliarden Euro verloren"

lw; 03.02.2025, 12:54 Uhr
Oberberg - Die Direktkandidaten im Oberbergischen Kreis für den Bundestag stellen sich den Fragen von Oberberg-Aktuell - Heute: Sabine Grützmacher von Bündnis 90/Die Grünen.

Was ist Ihre Motivation für eine weitere Kandidatur für den Bundestag?

Das Finanzkriminalitätsbekämpfungsgesetz wird nicht mehr verabschiedet, da die FDP es nicht mehr mitträgt, auch wenn sie Monate zuvor noch den Goldstandard in der Geldwäschebekämpfung versprochen hat. Dabei braucht es dringend ein ambitionierteres Vorgehen zur Bekämpfung von Geldwäsche und Finanzkriminalität. Als Vorsitzende des Kontrollgremiums der Financial Intelligence Unit möchte ich dieses Thema aktiv weiter voranbringen, uns gehen hier über 100 Milliarden Euro verloren – Geld, das wir dringend benötigen.  Hier haben wir in monatelangen Verhandlungen gute Konzepte erarbeitet, die umgesetzt werden sollten. Ich setze mich für digital gestützte und bürgerrechtlich ausgewogene Ermittlungsverfahren ein. Auch im Bereich der Digitalisierung braucht es gute digitale Infrastruktur statt teurer Leuchtturmprojekte, nachhaltige Technologien wie Open Source müssen mehr Förderung erhalten, Digitalisierung muss langfristig und nachhaltig gedacht werden, nicht von Projekt zu Projekt.

 

Welches politische Ziel ist Ihnen das Wichtigste?

Eine wehrhafte und stabile Demokratie, die keine Symbolpolitik auf dem Rücken schwächerer Personengruppen macht und aus Sicht einer Finanzpolitikerin: So viel wie möglich vom Kuchen der fehlenden 100 Milliarden aus Finanzkriminalität und Geldwäsche zurückholen. Denn durch Geldwäsche im Immobilienbereich sind zum Beispiel über Jahre die Immobilienpreise stark gestiegen und damit auch Wohnraum teurer geworden, das Geld fehlt uns in der Infrastruktur und auch in der sozialen Infrastruktur. Anne Brorhilker, die sich bei der Aufklärung um die Cum Ex Fälle sehr verdient gemacht hat, sagt nicht umsonst: „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen“. Aber gerade bei knapperen Haushalten kann es nicht sein, dass im großen Stil durch Finanzkriminalität auf dem Rücken der Gesellschaft Gewinn gemacht wird.

 

Zur Person
 

Alter: 39

Wohnort: Gummersbach

Familienstand: verheiratet

Beruf: Sozialarbeiterin und Bildungsinformatikerin

Hobbys: Wandern, Tischkickern
 

Bisheriger politischer Werdegang: Stadtrat Gummersbach, Kreistag, Kreissprecherin der Grünen Oberbergischer Kreis, MdB
 

Vereinszugehörigkeiten: Oberberg ist bunt, nicht braun, CCC, Finanzwende
 

Mein Lieblingsplatz im Wahlkreis: im Herbst vor allem die oberbergischen Wälder, wenn Zeit zum Pilze suchen bleibt

 

Welches Thema wurde von der Ampel-Regierung am meisten vernachlässigt?

Die dringend notwendige Reformierung der Schuldenbremse. Nicht an mangelndem Willen durch uns, sondern weil sie leider mit einem der Koalitionspartner nicht durchsetzbar war. Auch andere Länder investieren, volkswirtschaftlich ist dies notwendig und geboten und wir dürfen, auch mit Blick auf nachfolgende Generationen, unsere analoge und digitale Infrastruktur nicht kaputtsparen. Hier geht es explizit um Investitionen und nicht um unbegrenzte Schuldenaufnahme , dies muss für digitale Infrastruktur, Infrastruktur für Wirtschaft, Schulen, Bildung, Kultur und auch soziale Infrastruktur möglich sein.

 

Wie muss sich Ihrer Meinung nach die Migrationspolitik entwickeln?

Rechtsstaatlich und orientiert an Menschlichkeit. Wir brauchen Migration auch mit Blick auf den drohenden Fachkräftemangel und es kann nicht sein, dass Menschen, die hier seit Jahren verwurzelt sind und Teil von Gemeinschaft, Nachbarschaft, Vereinsmitglied sind und hier arbeiten, in Nacht und Nebelaktionen abgeschoben werden. Aber das Argument alleine ist für mich nicht ausreichend. Unabhängig von Arbeitsplätzen verlieren Kinder ihre Freunde, Menschen ihre Nachbarn oder Vereinskollegen. Gerade im Bereich der Asylpolitik müssen deswegen schutzsuchende Menschen auch weiterhin nach geltendem Recht hier Schutz suchen dürfen. Wenn wir über Abschiebung diskutieren, dürfen wir Menschenrechte nicht außer Acht lassen.

 

Was braucht die deutsche Wirtschaft und damit auch oberbergische Unternehmen, um wieder in Schwung zu kommen?

Investitionen, eine Reformierung der Schuldenbremse und vor allem auch einen Digitalisierungsanschub. Wir brauchen stabile Infrastruktur, analog wie digital und es braucht eine digital einfach funktionierende Verwaltung. Es braucht außerdem Planungssicherheit, dass der eingeschlagene Weg zum Ausbau der Erneuerbaren und nachhaltiges Wirtschaften das Wirtschaften der Zukunft ist, das signalisieren uns Unternehmen, und darauf müssen sie sich verlassen können. Ein Deutschlandfonds, der Investitionen unterstützt, die Wirtschaft ankurbelt und sich auch an kleine und mittelständige Unternehmen richtet, die das Rückgrat unserer Gesellschaft sind, ist ein guter Ansatz.

 

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Photovoltaik, Windkraft, Wasserkraft: Auch im Wahlkreis wird um die Energiewende gerungen. Wie sollte sich Oberberg beteiligen?

Der Strompreis ist dank dem Ausbau der Erneuerbaren im Durchschnitt schon auf einem niedrigeren Stand, als er 2020 war, es wird ein Einsparpotential von um die fünf Milliarden Euro angenommen, wenn Menschen den Strompreis vergleichen und  gegebenenfalls den Anbieter wechseln oder Verträge neu abschließen würden. Die letzten Jahre haben gezeigt, wie wichtig Lieferketten und Energieunabhängigkeit für uns in Europa und Deutschland sind, deswegen müssen wir dies ausbauen. Auch im Wahlkreis sollten wir uns beteiligen, denn erneuerbare Energien bedeuten bezahlbares Leben. Beteiligungen an erneuerbaren Energieprojekten, wie zum Beispiel an Windparks, sollen den Bürgern vor Ort zugute kommen, die Renditen sind oft attraktiv, deswegen sollte darauf geachtet werden, dass Beteiligungen nicht von Großinvestoren aufgekauft werden, sondern die Wertschöpfung zum großen Teil in den Kommunen bleibt.

 

Wie kann das Leben im ländlichen Raum gestärkt werden?

Das Leben im Oberbergischen ist lebenswert, wir haben die Vorzüge beider Seiten, gute Arbeitsplätze, Industriestandort mit guten Unternehmen, aber gleichzeitig auch Naherholungsorte wie Talsperren  vor der Haustüre. Förderungen wie LEADER, die Vorzeigeprojekte und dörfliche Infrastruktur unterstützen, vom Wochenmarkt über Gemeinschaftshäuser, Genossenschaftskneipen, Errichtung von Ärztehäusern bis hin zu Tourismusprojekten, müssen ausgebaut werden. Viele dieser Initiativen werden von Vereinen getragen, die unsere Unterstützung weiterhin benötigen, in Zukunft gerne auch Bürokratie-ärmer. Es braucht auch einen Mobilitätsmix, der Schiene, ÖPNV, Ladestrukturen für E-Mobilität, Projekte wie Monti, Bürgerbusse, Car-Sharing und den privaten Pkw so miteinander verzahnt, dass unabhängig vom Alter oder Wohnort Teilhabe und Mobilität möglich ist. Besonders im Bereich der medizinischen Versorgung braucht es gezielte Unterstützung zur Ansiedlung von Ärzten und Pflege-/Gesundheitsangeboten.

 

Der Krieg in der Ukraine, Konflikte in Nahost, jetzt die Wahl Donald Trumps: Wie groß sind Ihre Sorgen, dass diese Krisen auch die nationale Sicherheit bedrohen?

Sorgen habe ich zum einen bezüglich der Erstarkung von Rechtsextremen. Es kann nicht sein, dass Menschen sich wieder fragen, ob und wann sie eigentlich aus Angst vor rechtsextremen Kräften in Zukunft auswandern sollten, diese Sorgen höre ich auch von queeren Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund oder Menschen mit Behinderung. Als Antwort auf Krisen braucht es ein Bekenntnis zu demokratischen Werten und ein starkes, geeintes Europa, auch in Bezug auf Souveränität. Europäische Antworten sollten auch eine Unabhängigkeit von Lieferketten beinhalten, sei es im Bereich digitaler Infrastruktur, Medikamentenversorgung, Energie oder anderer Themen.
 

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