BLAULICHT
„Wäre er nicht versorgt worden, wäre er verblutet“
Gummersbach – Im Prozess um die Schüsse in Gummersbach wurde heute das rechtsmedizinische Gutachten vorgestellt – Psychologin berichtet von Wutausbruch in der Psychiatrie – Auch die Ersthelferinnen haben ausgesagt.
Am Landgericht Köln wurde heute der Prozess um die Schüsse in der Gummersbacher Innenstadt fortgesetzt. Alex H. (Anm.d.Red.: Name geändert) muss sich vor der 18. Großen Strafkammer um den Vorsitzenden Richter Volker Köhler unter anderem wegen schweren gefährlichen Diebstahls, Widerstands gegen die Polizei und gefährlicher Körperverletzung verantworten. Der 31-Jährige hatte vergangenes Jahr am 14. November in der Gummersbacher Fußgängerzone einen Polizisten mit einem Messer attackiert und war daraufhin vor dem Backwerk von mehreren Beamten niedergeschossen worden.
Lob und Respekt für die Ersthelferinnen
Ausgesagt haben im Raum 13 des Landgerichts Köln heute zunächst zwei Gummersbacherinnen, die nach den Schüssen Erste Hilfe geleistet haben. Die beiden Frauen sind als Gesundheits- und Krankenpflegerinnen tätig, absolvieren beim GBZ auf dem Steinmüllergelände eine Fachweiterbildung. Ihre Mittagspause wollten die zwei nutzen, um in einem Geschäft in der Innenstadt ein Paket abzuholen. Als sie auf dem Rückweg waren, hätten sie die Schüsse gehört und sich dann beim Tchibo versteckt, erzählte die 28-Jährige im Zeugenstand.
Um zurück zum Unterricht zu gelangen, hätten sie dann einen Bogen um die Kampstraße machen wollen – dabei aber auch gesehen, dass die Polizei den Bereich um das Backwerk mit einem Flatterband abgesperrt hatte und auch, dass eine Person auf dem Boden lag. „Wir sind Intensivpflegekräfte“, sagte die 28-Jährige, und „haben gefragt, ob wir helfen sollen.“ Seitens der Beamten seien sie dann gefragt worden, was sie bräuchten, und unter anderem mit Handschuhen ausgestattet worden, ergänzte ihre 24-jährige Kollegin.
Anschließend hätten sie die Kleidung von Alex H. aufgeschnitten, ihn gefragt, ob ihm kalt ist und ob er Schmerzen habe, sich seine Hände, Beine und den Oberkörper angeschaut, die Verletzungen abgedeckt, auf die Wunden gedrückt und auch versucht, ihn wachzuhalten – bis der Rettungsdienst kam. „Er war nicht leicht wachzuhalten, hat immer wieder die Augen zugemacht. Sein Bewusstsein war geschwächt“, sagte die 24-Jährige. Rechtsanwalt Udo Klemt und Richter Volker Köhler zollten den beiden für ihren Einsatz Respekt. „Es ist sehr bemerkenswert, dass man sich nicht dieser Situation entzieht“, sagte etwa der Vorsitzende.
„Wir haben versucht, die Schussverletzungen zu rekonstruieren“
Während der heutigen Beweisaufnahme wurden unter anderem Fotos von den Verletzungen des Angeklagten gezeigt, die nach dem Vorfall im Kreiskrankenhaus Gummersbach gemacht worden sind. Sie zeigen die Einschusslöcher an verschiedenen Körperstellen. Diese Bilder wurden auch für das rechtsmedizinische Gutachten herangezogen, das heute vorgestellt worden ist. Eine Untersuchung, die vier Tage nach dem Ereignis durch eine Gutachterin hätte durchgeführt werden sollen, habe der 31-jährige Angeklagte aber abgelehnt. Erlaubt habe er hingegen die Einsicht in die Behandlungsunterlagen.
„Wir haben versucht, die Schussverletzungen zu rekonstruieren“, sagte der Gutachter. Allerdings sei auf den Bildern kaum zu erkennen gewesen, um welches Körperteil es sich handelt. Wie viele Kugeln Alex H. getroffen haben, ist auch heute noch unklar. Die Gutachter gehen von zehn bis 16 Einschusslöchern aus. „Genauer können wir es nicht sagen“, ergänzte der Rechtsmediziner. Insbesondere an den Beinen lasse sich nur schwer abschätzen, wie viele Projektile durch den Körper geschossen sind. Positiv dabei: an den unteren Extremitäten wurden keine Schlagadern und auch keine Knochen getroffen. Allerdings liege eine schussbedingte Nervenschädigung vor, wodurch Alex H. nur schwer seine linke Fußspitze anheben kann. Die sogenannte Fußheberschwäche „wird sich wahrscheinlich nicht mehr geben“, vermutet der Mediziner.
Von dem Vorfall gezeichnet sind vor allem die Hände des 31-Jährigen. Hier habe es „erhebliche knöcherne Verletzungen“ gegeben, schilderte der Gutachter. Nach seinem Aufenthalt im Justizvollzugskrankenhaus Nordrhein-Westfalen, das in Fröndenberg liegt, habe er im Februar in der Uniklinik Köln Handverschmälerungen erhalten. Betroffen gewesen seien an der rechten Hand der Ringfinger und der kleine Finger, sowie an der linken Hand der Mittel- und ein Teil des Zeigefingers. Alex H. habe „Glück, dass er beide Daumen bewegen kann“, sagte der Gutachter. So könne er noch Sachen aufheben, greifen und tragen.
Als gravierendste Verletzung bezeichnete der Mediziner aber den Rumpfdurchschuss, dabei insbesondere einen Durchschuss des Magens. Am Magen des Angeklagten habe es einen zehn Zentimeter langen Riss gegeben. Außerdem sei eine Schlagader am Magen verletzt worden und die Bauchhöhle durch Mageninhalt kontaminiert worden. Alex H. habe dadurch viel Blut verloren. „Wäre er nicht versorgt worden, wäre er verblutet“, sagte der Gutachter. Wie durch ein Wunder seien durch die zahlreichen Schüsse aber keine weiteren Schlagadern verletzt worden.
Ins Krankenhaus eingeliefert worden sei Alex H. in einem kreislaufinstabilen Zustand. Einen Tag nach dem Vorfall sei der 31-Jährige extubiert worden – und ab dann außer Lebensgefahr gewesen. Außerdem äußerte sich der Mediziner noch zu einer Blutprobe. Zum Zeitpunkt des Angriffs hätte der Angeklagte maximal einen Promillewert von 1,52 im Blut gehabt. Darüber hinaus wurde in seinem Blut auch THC festgestellt. Allerdings habe die Untersuchung keine relevante Konzentration des Wirkstoffs geliefert.
Wutausbruch in der Psychiatrie
Ausgesagt hat heute auch eine Psychologin, die in der Psychiatrie, in der Alex H. untergebracht ist, tätig ist. Sie berichtete von einem Wutausbruch des Angeklagten. Bei einem gemeinschaftlichen Frühstück soll er aggressiv geworden sein sowie Pflegepersonal beleidigt und angegriffen haben. Der 31-Jährige soll einen Lappen, den er bei sich trage, um seine Wunden zu kühlen, nach einem Mitarbeiter geworfen haben. Außerdem soll er einen anderen Mitarbeiter geschlagen und einen weiteren Mitarbeiter in den Oberarm gebissen haben. Anschließend sei sein Zimmer durchsucht und dabei eine selbstgebastelte Waffe gefunden worden. Alex H. soll an einer Zahnbürste den Kopf entfernt und den Griff angespitzt haben – angeblich, weil er sich durch einen anderen Patienten bedroht gefühlt habe.
Seit dem 26. Juni befinde sich der Angeklagte in Isolation. Psychotherapeutische Gespräche habe er bislang abgelehnt – bis zur vergangenen Woche. Ihm sei bewusst, in welcher Situation er sich befinde, sagte die Psychologin. Eine Diagnose habe sie noch nicht stellen können, dafür zu wenig Kontakt mit Alex H. gehabt. In Betracht komme für sie aber eine paranoide Schizophrenie. Alex H. soll gesagt haben, dass er Stimmen höre – schon seit seinem 19. Lebensjahr. Zwar seien diese nicht bestimmend, aber so zahlreich, dass er sie nicht wirklich verstehen würde. In der Psychiatrie bekomme er nun Haloperidol, ein Antipsychotikum. Seitdem er das Neuroleptika nehme, gehe es dem 31-Jährigen wohl besser. Langfristig gehe es darum, dass er seine Krankheit verstehe und lerne, mit der Symptomatik umzugehen.
Auch während der heutigen Beweisaufnahme saß Alex H. die meiste Zeit mit geschlossenen Augen im Gerichtssaal, wirkte teilnahmslos. Aber das scheint zu täuschen: der 31-Jährige bekommt mit, was in dem Saal passiert, beobachtete beispielsweise, wie ein Justizbeamter die Tür des Saals öffnete, einen Kollegen ablöste und dessen Platz einnahm. Mit geöffneten Augen hat er auch die „Stippvisite“ seiner Adoptiveltern verfolgt. Mutter und Vater waren nur kurz im Gerichtssaal, machten von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Doch zumindest gab es einen kurzen Gruß zwischen Eltern und Adoptivsohn. Gegenüber Oberberg-Aktuell machte der Adoptivvater dann nochmal deutlich, was seiner Meinung nach zu sehr aus dem Fokus geraten sei –, nämlich dass sein Adoptivsohn „durch die Schüsse verkrüppelt“ worden sei.
Der Prozess wird am kommenden Dienstag fortgesetzt. Das Urteil soll im Oktober gefällt werden.
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