BLAULICHT

Polizeischüsse in Gummersbach: 31-Jähriger muss in Psychiatrie

pn; 31.10.2024, 11:17 Uhr
Foto: Peter Notbohm ---- Ein 31-jähriger Gummersbacher (hier mit seinem Verteidiger Udo Klemt) wird auf Anordnung des Landgerichts Köln in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht.
BLAULICHT

Polizeischüsse in Gummersbach: 31-Jähriger muss in Psychiatrie

pn; 31.10.2024, 11:17 Uhr
Gummersbach – Urteil im Prozess gegen den Messerangreifer, der in Gummersbach von Polizisten mehrfach angeschossen wurde - Zwei Haftstrafen – Richter ordnen zudem Unterbringung in psychiatrischem Krankenhaus an.

Von Peter Notbohm

 

Mit eindringlichen Worten wendete sich der Vorsitzende Richter Dr. Volker Köhler in seinem Urteil an Alex H. (Anm.d.Red.: Name geändert). „Suchen sie sich den richtigen Feind aus. Das sind nicht die Leute, die ihnen helfen wollen. Das ist ihre Krankheit“, sprach er von einem Kampf mit inneren Dämonen.

 

Kurz zuvor hatte die 18. Große Strafkammer am Landgericht Köln den 31-jährigen Gummersbacher zu zwei Freiheitsstrafen von einem Jahr und vier Monaten sowie zwei Jahren und fünf Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung sowie wegen Angriffs und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung sowie wegen Diebstahls mit Waffen und vorsätzlicher Körperverletzung sowie gefährlicher Körperverletzung und Angriffs und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte verurteilt.

 

Die Höhe der Haftstrafen dürfte allerdings eher bedeutungslos sein, da das Gericht gleichzeitig die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnete. Die dort verbrachte Zeit wird zwar auf die Strafe angerechnet, könnte aber auch viel länger dauern als die Haftstrafe – im Extremfall für immer.

 

Die Richter waren überzeugt davon, dass Alex H. sämtliche der ihm vorgeworfenen Taten im Zustand einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit, aber nicht im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen hat. Richter Köhler legte deshalb in seiner knapp einstündigen Urteilbegründung daher den Fokus auch vor allem auf die schwere kombinierten Persönlichkeitsstörung des Gummersbachers.

 

Im Oktober 2022 hatte Alex H. seinen Vermieter mit einem Stein am Kopf verletzt, im Juni 2023 zwei Polizisten angegriffen und verletzt. Die Vorfälle aus der Gummersbacher Innenstadt vom 14. November des vergangenen Jahres zogen bundesweite Aufmerksamkeit auf sich. Zunächst hatte der 31-Jährige mehrere Bierdosen aus dem Supermarkt Dornseifer gestohlen und dabei eine Verkäuferin niedergeschlagen. Anschließend attackierte er in der Gummersbacher Innenstadt mehrere Polizisten, die nach mehreren Eskalationsstufen das Feuer auf Alex H. eröffneten.

 

Die Richter sprachen von mindestens 15 abgegeben Schüssen am Backwerk, acht davon trafen Alex H. in Oberschenkel, Knie, Oberarm und Händen. Lebensgefährlich war ein Bauchschuss, der den Magen verletzte. Drei Finger mussten ihm amputiert werden. Das zufällig aufgenommene Video der Schüsse verbreitete sich binnen Minuten über die sozialen Medien und ging viral, weshalb der Fall es sogar in die bundesweiten Medien schaffte. Die 18. Große Strafkammer legte allerdings bewusst einen anderen Fokus in ihrem Urteil. Köhler sprach davon, dass es zu einfach wäre, den Fokus nur auf diesen Vorfall zu legen. „Richtig ist, dass wir uns auf den konzentrieren, um den es hier geht. Das sind sie, wie sie mit ihrer Erkrankung umgehen und was zu ihrer Erkrankung führt. Das ist untrennbar mit ihnen verbunden.“

 

Die Auswirkungen beschrieb der Richter sehr konkret, sprach von einem dauerhaft gestörten Selbstwertgefühl des 31-Jährigen, der Konflikte bewusst suche, „da sie zu einer Stabilisierung des Selbstwertgefühls führen“. Dabei nehme er bewusst Risiken in Kauf, was sich auch in einer fortlaufenden Verschlechterung seiner Lebensumstände über die Jahre gezeigt habe.

 

Ursächlich hierfür sei die fehlende menschliche Bindung, die er nie habe erlernen können. Der Gummersbacher verbrachte sein erstes halbes Lebensjahr in einem Waisenhaus in Marokko, wo er krankhaft vernachlässigt wurde. „Leider haben sie dadurch nie erlernen können, nachhaltiges Vertrauen aufzubauen. Das geht nur in diesem Alter und war leider der Beginn all ihrer Probleme.“ Die Krankheit habe sich nach der Adoption einer deutschen Familie nach und nach durchgesetzt und mündete in zahlreichen Besuchen bei Psychiatern und Krankenhausaufenthalten. Später kamen auch Alkohol- und Substanzmissbrauch hinzu.

 

Seine Krankheit sei vor allem auf Dominanzsicherung ausgelegt, hieß es im Urteil. Köhler sprach mehrfach von „Trigger-Momenten“ und einem „durchgängigen Muster an Auffälligkeiten“: „Es geht ihnen dabei darum, sich selbst zu spüren. Das Dominanzausüben gibt ihnen Stabilität. Es ist ein Ausdruck ihres Erkrankungsbildes, dass sie sich keine Grenzen setzen lassen wollen.“ So verstanden die Richter auch das Verhalten vor dem Backwerk, als Alex H. die Polizisten angriff, obwohl bereits Warnschüsse gefallen waren. „Auch hier haben wir wieder eine Form von Dominanz. Sie wollten Herr der Situation bleiben. Ihre Persönlichkeitsstörung war wieder im Vordergrund. Egal, mit welchen Konsequenzen. Das ist das Tragische“.

 

Ob der Polizeieinsatz „von vorne bis hinten missglückt war“ – wie es die Verteidigung in ihrem Plädoyer am Dienstag gesagt hatte - dazu wollte sich die Kammer bewusst nicht äußern. „Dazu sind wir nicht berufen und es nicht nur unsere Aufgabe, rechtspolitische bzw. gesellschaftspolitische Hypothesen aufzustellen.“ Trotzdem stellte Köhler unangenehme Fragen: „Welche Möglichkeiten haben wir, um psychisch kranken Menschen zu helfen? Welche Ressourcen nehmen wir dafür in die Hand?“

 

Die Justiz sehe ein enorm wachsendes Problem: Eine steigende Zahl an Fällen, eine enorme Ressourcenknappheit, um dem zu begegnen, extreme Schwierigkeiten Sachverständige oder gar Unterbringungsplätze zu finden. „Aber das ist ein Problem, das diese Kammer nicht lösen kann und eher eine gesellschaftspolitische Frage“, so Köhler.

 

An Alex H. hatte er zum Schluss noch aufmunternde Worte. Habe er den Angeklagten lange Zeit gleichgültig, passiv wahrgenommen habe sich dieses Bild zum Ende des Prozesses gewandelt: „Ich habe bei ihnen einen Willen erlebt, sich helfen zu lassen. Wenn sie irgendwann sagen können, dass sich nicht mehr von ihrer Krankheit dominiert werden, wäre das eine unfassbare Lebensleistung. Ich glaube, dass sie das schaffen können. Sie haben die Hilfe durch ihre Familie. Lassen sie die Menschen in ihr Leben, lassen sie sich helfen.“

 

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

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