BLAULICHT
Prozess um Schüsse in Gummersbachs Fußgängerzone: "Alle weiteren Schüsse wären in den Kopf gegangen"
Gummersbach –30-jähriger Randalierer soll mit Cutter-Messer auf Polizisten losgegangen sein – Die gaben mehrere Schüsse auf ihn ab - Heute begann der Prozess am Amtsgericht Gummersbach.
Von Peter Notbohm
Das Video von den Geschehnissen in der Gummersbacher Fußgängerzone vom 14. November des vergangenen Jahres ging innerhalb von Minuten viral und erlangte bundesweite Aufmerksamkeit (OA berichtete und OA berichtete). Es dürfte kaum einen oberbergischen Bürger gegeben haben, der den Clip von den Schüssen der Polizei auf Alex H. (Anm.d.Red.: Name geändert) vor der Bäckerei Backwerk nicht noch am selben Tag irgendwann auf seinem Smartphone hatte – das Video, gefilmt aus einem Imbiss, verbreitete sich wie ein Lauffeuer über die Sozialen Medien.
Insgesamt 15 Schüsse sollen damals abgefeuert worden sein, nachdem der 30-jährige Deutsch-Marokkaner, der schon in Kindertagen von einer deutschen Familie adoptiert wurde, einen Polizisten mit einem Cuttermesser an der Nasenwurzel verletzt haben soll. Mindestens sieben Schüsse sollen den polizeibekannten Gummersbacher in beiden Oberschenkeln, Bauch und Händen getroffen haben – es können mehr gewesen sein, sagt sein Anwalt Udo Klemt.
Der in U-Haft befindliche Angeklagte sitzt seitdem im Rollstuhl: Ein Nerv im Oberschenkel wurde getroffen; ob er jemals wieder laufen kann, ist laut seinem Verteidiger unklar. Zudem mussten drei Finger amputiert werden. Bei ihm bestand schon vor dem verhängnisvollen Tag eine psychiatrische Erkrankung mit Psychosen. Zudem habe er Drogenprobleme, so der Rechtsanwalt. Nach der Tat wurde bei ihm ein Alkoholwert von 0,9 Promille festgestellt. Zudem wurden Spuren von Cannabis und Benzodiazepin in seinem Blut gefunden. Verletzt wurden damals außerdem zwei Passanten, die von Querschlägern getroffen wurden. Weitere Projektile landeten in umliegenden Schaufenstern und sogar 100 Meter entfernt im ersten Obergeschoss der Sparkassen-Filiale.
[Vier Verhandlungstage Zeit wird sich das Schöffengericht um den Vorsitzenden Richter Ulrich Neef (m.) für den Prozess nehmen.]
Die Hintergründe, die zu den Schüssen geführt haben, sollen seit dem heutigen Freitag von einem Schöffengericht am Gummersbacher Amtsgericht unter dem Vorsitz von Richter Ulrich Neef aufgeklärt werden. Alex H. ist unter anderem angeklagt wegen schweren gefährlichen Diebstahls, wegen Widerstands gegen die Polizei sowie gefährlicher Körperverletzung.
Die Vorgeschichte soll im Dornseifer im Forum begonnen haben. Laut Anklage soll Alex H. eine Bierdose geöffnet und ausgetrunken haben. Als er von einer Mitarbeiterin angesprochen wird, soll er sie mit der Faust zu Boden geschlagen haben und anschließend mit zwei weiteren Bierdosen den Supermarkt verlassen haben. All das wurde auf Überwachungskameras festgehalten. Die alarmierte Polizei kam ihm schnell auf die Spur, weil er anschließend am Busbahnhof offen ein Cutter-Messer bei sich trägt. Einer Kontrolle soll er sich aber widersetzt haben, ehe die Situation in der Innenstadt eskaliert. So weit die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft.
Sein Verteidiger Udo Klemt erhofft sich auch, dass das Verfahren dazu führt, „dass man darüber nachdenkt, wie man solche Einsätze künftig besser durchführen kann“. Denn aus seiner Sicht, „ist dieser Einsatz schlichtweg nicht in Ordnung gewesen und von vorne bis hinten schiefgelaufen.“
Dass die Staatsanwaltschaft damals gegen die beteiligten Beamten kein Verfahren eröffnet hat, sorgt bei ihm für Kritik. „Das war laut Aktenlage Tötung auf Verlangen. Er soll sie aufgefordert haben, ihn zu erschießen. Aber statt ihn zu erschießen, haben sie ihn zum Krüppel geschossen“, sagte er vor Beginn des Prozesses gegenüber Oberberg Aktuell. Weitere Fragen, die ihn beschäftigen: Warum gibt es keine Bodycam-Aufnahmen, obwohl diese angeschaltet gewesen sein sollen. War die Klinge des Cutter-Messers überhaupt ausgefahren? Und warum handelt es sich bei allen Treffern um Durchschüsse: „Wo war die mannstoppende Munition?“
Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer hatte damals gegenüber dem WDR von einem konkreten Angriff mit einer verbundenen Todesgefahr für die Beamten gesprochen, was den Schusswaffen-Einsatz als Ultima Ratio gerechtfertigt habe. Es habe sich um eine Notwehr-Situation gehandelt, wodurch kein Anfangsverdacht vorgelegen habe.
Zum heutigen Prozessauftakt, der mit 45 Minuten Verspätung begann, weil ein Schöffe nicht erschienen war, schwieg Alex H., hielt sich dauerhaft seine Hände und starrte fast durchgängig in die Ferne. Nur einziges Mal regte er sich: Als das Video der Schüsse auf ihn abgespielt wird, blickt er in Richtung der Zuschauer. Ausgesagt haben heute bereits mehrere der insgesamt 30 geladenen Zeugen. Darunter die 41-jährige Supermarktmitarbeiterin, die berichtete, dass der Angeklagte ihr mit dem Schlag die Nase gebrochen habe und sie fünf Wochen krankgeschrieben war. Noch heute leide sie unter Angstzuständen, berichtete sie unter Tränen. Auch eine 14-jährige Schülerin aus Gummersbach sowie eine 53-jährige Zufallszeugin und ihr 16-jähriger Sohn aus Reichshof machten Angaben, zu dem was sie am Busbahnhof bzw. in der Innenstadt wahrgenommen hatten.
Deutlich interessanter waren aus Sicht der Verteidigung allerdings die Aussagen von drei der vier Polizisten, die an dem Vorfall beteiligt waren. Der 25-jährige Polizeibeamte, der bei dem Einsatz verletzt wurde, berichtete, dass der Angeklagte auf dem Weg vom Busbahnhof in Richtung Innenstadt „wie in seiner eigenen Welt gefangen“ gewirkt habe. Auf Ansprache habe er gar nicht reagiert. Auch eine volle Ladung Pfefferspray habe ihn nicht stoppen können.
Der Schusswaffeneinsatz war aus seiner Sicht das „letzte Mittel“ gegen einen Messer-Angreifer. Nachdem er von dem 30-Jährigen verletzt worden sei, habe er sich zunächst zurückgezogen und als dieser erneut auf die Beamten losging, habe er dann sogenannte Deutschüsse abgegeben. Dabei handelt es sich um schnelle, grob visierte Schüsse. „Ein sich bewegendes Ziel ist schwer zu treffen.“ Seine Bodycam habe er damals angeschaltet. „Da bin ich mir zu 100 Prozent sicher!“ Warum diese keine Bilder geliefert habe, könne er sich nicht erklären – eventuell habe es einen technischen Defekt gegeben.
Ein 54-jähriger Polizist sagte aus, dass sich alles in Sekundenbruchteilen abgespielt habe und sprach von einer surrealen Situation. Der Angeklagte sei nach der Attacke auf seinen Kollegen auf ihn zugerannt und habe ihm „dann knall du mich doch ab“ zugeraunt. Ob es sich dadurch - wie von der Verteidigung vermutet - um eine sogenannte ‚Suicide-by-Cop-Situation‘ gehandelt habe, könne er allerdings nicht beurteilen. Auf ihn habe das Handeln des 30-Jährigen zielgerichtet und überlegt gewirkt: „Es machte den Eindruck, dass er sich durch die Polizei nicht bedroht fühlte.“
Dass er nicht gezögert hätte, einen finalen Schuss abzugeben, daran ließ der Beamte angesichts zunehmender Verbreitung von Messer-Attacken und zunehmender Gewaltbereitschaft gegenüber der Polizei keinen Zweifel: „Er kam mit einem Messer auf mich zu. Mir war klar, der will mir ans Leben.“ Seine ersten Schüsse hätten noch den Beinen gegolten, anschließend habe er Richtung Oberkörper gezielt. „Der Angeklagte kann froh sein, dass er hier sitzt und dass dort besonnene Polizisten gehandelt haben. Zwei Sekunden später hätte ich ihn gezielt erschossen. Alle weiteren Schüsse wären in den Kopf gegangen.“
Angeklagt sind zudem zwei weitere Taten. Auch am 24. Juni 2023 soll Alex H. in Dieringhausen nach einer mutmaßlichen gefährlichen Körperverletzung Widerstand gegen Polizeibeamte geleistet haben und diese dabei verletzt haben. Zudem soll er am 7. Oktober 2022 in Windhagen nach einem Streit die Fenster seines Vermieters eingeschmissen haben (Schaden: etwa 1.300 Euro) und den Mann mit einem spitzen Stein zudem am Kopf getroffen haben. Diese Vorfälle sollen an den weiteren Prozesstagen aufgeklärt werden. Die ursprünglich drei vorgesehenen Verhandlungstage wurden bereits um einen ergänzt, sodass ein Urteil nun am 7. Juni erwartet wird.
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