LOKALMIX
Über den Ärztemangel, Effizienz und eine schleichende Digitalisierung
Oberberg – Im AOK-Haus wurde der Gesundheitsreport 2025 vorgestellt – Experten befürworten ein Primärversorgungssystem – Frauen werden seltener weiterbehandelt als Männer.
Ob bei Herzerkrankungen, Rückenschmerzen, Diabetes, Depressionen, Asthma oder auch Lungen- und Nierenerkrankungen: viele Patienten erhalten ihre Diagnose bei einem Facharzt. Die medizinischen Leitlinien empfehlen in der Regel eine weitere Behandlung durch den Hausarzt – doch der weiß manchmal gar nichts von einer Diagnose. Nicht immer werden notwendige Informationen übermittelt; oder sie werden übermittelt, dann aber in der Hausarztpraxis nicht erfasst. Die Folge: wird der Patient dann nicht beim Facharzt weiterbehandelt, wird er gar nicht behandelt. „Und das kann gefährlich werden“, sagte AOK-Regionaldirektor Frank Mäuer gestern bei einem Pressegespräch im AOK-Haus in Gummersbach, wo der Gesundheitsreport 2025 vorgestellt worden ist.
Der Gesundheitsreport liefert Fakten zur regionalen Gesundheits- und Versorgungssituation im Rheinland und in Hamburg. Wie jedes Jahr wird dabei die ambulante und stationäre Versorgung, die Kinder- und Jugendgesundheit und die Pflege beleuchtet. Darüber hinaus gibt es alljährlich ein Schwerpunktthema, diesmal die „Integrierte Versorgung“ – ein Fachausdruck, mit dem viele wohl erstmal nichts anfangen können. Vereinfacht dargestellt handelt es sich dabei um eine interdisziplinäre medizinische Versorgung, die in Kooperation von unterschiedlichen Leistungserbringern – also zum Beispiel Hausärzten, Fachärzten, Krankenhäusern oder auch Reha-Einrichtungen – erfolgt. Und da sieht man bei der AOK einige Probleme.
Die ambulante ärztliche Versorgung bezeichnet Mäuer als Rückgrat des deutschen Gesundheitswesens. Diese Versorgung zu reformieren, sei eine Mammutaufgabe. „Die Ärzte haben viele Fälle – und sie haben wenig Zeit für ihre Patienten“, sagte Stefan Lopez Seijas, Analyst bei der AOK. „Das Zeitproblem ist immens.“ Mit Blick auf den demographischen Wandel dürfte sich das in den kommenden Jahren noch verschärfen – nicht zuletzt auch deshalb, weil viele Mediziner in den Ruhestand gehen werden. Schon jetzt fällt es in vielen Regionen schwer – gerade auch im Oberbergischen, Arztsitze nachzubesetzen. „Deshalb muss es das Ziel sein, das System der ambulanten Versorgung möglichst effizient aufzustellen“, sagte Mäuer.
Anders als in anderen Ländern gibt es in Deutschland kein Primärversorgungssystem. Die Patienten haben damit – sofern sie einen Termin bekommen – die freie Arztwahl und damit auch einen direkten Zugang zu Fachärzten. Etwas, das in der Politik derzeit diskutiert wird. Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung spricht sich für eine sogenannte Primärarztversorgung aus. „Aber ein Primärarztsystem wird uns nicht helfen“, sagte Lopez. Bei der AOK geht man davon aus, dass das die Hausärzte noch stärker belasten würde. Stattdessen „brauchen wir ein Primärversorgungssystem“, sagte Lopez, zu dem die Hotline 116 117 ebenso dazugehört wie Videosprechstunden, eine stärkere Digitalisierung sowie arztentlastende Fachkräfte.
[Foto: Katharina Schmitz --- AOK-Regionaldirektor Frank Mäuer (l.) und Stefan Lopez Seijas, Analyst bei der AOK, haben den Gesundheitsreport 2025 vorgestellt.]
Im 94 Seiten umfassenden Gesundheitsreport wird die Behandlungskontinuität an der Schnittstelle zwischen Haus- und Facharztpraxen beleuchtet. Anhand von Abrechnungsdaten der AOK Rheinland/Hamburg untersucht er, ob fachärztliche Befunde und Therapieänderungen in der Behandlung durch Hausärzte Berücksichtigung finden. Die Auswertungen zeigen, dass dies in vielen Fällen nicht der Fall ist. So wird die Diagnose einer chronischen Lungenerkrankung nur in jedem dritten, einer Herzinsuffizienz in jedem vierten und einer chronischen Nierenkrankheit nur in jedem fünften Fall durch Hausärzte aufgegriffen – jedenfalls nach den zugrunde gelegten Abrechnungsdaten. Eine Weiterbehandlung auf fachärztlicher Seite binde aber oftmals Ressourcen, die an anderer Stelle fehlen würden.
Bei der Analyse wurden auch Einflussfaktoren wie Alter, Geschlecht, Pflege und die Krankheitsausprägung erfasst. Dabei wurde deutlich, dass Jüngere häufiger weiterbehandelt werden als Ältere, dass Pflegebedürftige seltener weiterbehandelt werden als Nicht-Pflegebedürftige und dass ein Patient umso eher weiterbehandelt wird, je schwerer die Erkrankung ist. Deutlich wurde dabei aber auch, dass Männer häufiger weiterbehandelt werden als Frauen. „Den Unterschied gibt es, erklären kann ich ihn aber nicht“, sagte Lopez. Eine Spekulation des Analysten: dass Frauen vielleicht nicht so ernst genommen werden wie Männer.
Ein weiteres Problem ist eine geringe Digitalisierungsquote. Der Versand von relevanten Behandlungsunterlagen und -informationen findet in Deutschland noch überwiegend per Post und Fax statt. Die Rückständigkeit der digitalen Vernetzung des deutschen Gesundheitswesens zeigt sich auch im Vergleich zu anderen Ländern. Während die „Koordination mit praxisexternen Gesundheitsdienstleistern“ durch sogenannte eHealth-Instrumente (ohne E-Mail) 2022 in den Niederlanden bei über 90 Prozent lag, sah das in Deutschland ganz anders aus. Auch heute ist ein digitaler Austausch von Ärzten noch nicht die Regel. Beispiel Arztbrief: 2024 hat es sich in 18 Prozent der Fälle um eArztbriefe gehandelt, in 39 Prozent der Fälle wurde die Post genutzt und in 43 Prozent Faxgeräte.
Und auch bei der Elektronischen Patientenakte gebe es Verbesserungsbedarfe, sei sie derzeit noch weit davon entfernt, Ärzten einen schnellen und kompakten Überblick über behandlungsrelevante Informationen zu bieten. Beispielsweise würden Briefe als Bild hinterlegt werden. Informationen daraus müssten manuell übertragen werden. Diese Zeit fehlt im Praxisalltag, in dem Ärzte es kaum schaffen, Arztbriefe gründlich zu lesen. Hier bedürfte es einer kompakten Übersicht, über Behandlungsdiagnosen und Arzneimittelverordnungen.
Zahlen zum Oberbergischen:
Rund 90.000 Menschen im Oberbergischen Kreis und somit etwa ein Drittel aller Menschen in der Region sind bei der AOK versichert. Anders als andere Krankenkassen erlaubt das dem Versicherungsriesen einen sehr genauen Blick auf die regionale Basis. Bei Herzerkrankungen (42,6 Prozent) und Diabetes (72,2 Prozent) liegt die hausärztliche Weiterbehandlung anhand von Behandlungsfällen im Oberbergischen über dem Durchschnitt des gesamten Versorgungsgebiets der AOK Rheinland/Hamburg, bei Lungenerkrankungen (30,1 Prozent) und der Chronischen Nierenkrankheit (16,1 Prozent) darunter. Das könnte mit dem vorhandenen Angebot zusammenhängen.
Weiterhin Schlusslicht ist das Oberbergischen beim Check-up für Frauen und Männer ab 35 Jahren: dieser wird nur von 44 Prozent der Frauen (Rheinland/Hamburg: 57 Prozent) und von 40 Prozent der Männer (Rheinland/Hamburg: 50 Prozent) in Anspruch genommen. Dabei gibt es auch Unterschiede im Oberbergischen: in Marienheide und Wipperfürth wird der Check-up bei Frauen (51,6 Prozent) und Männern (45,5 Prozent) häufiger genutzt als in anderen Kommunen. Schlusslicht sind hier die Gemeinden Lindlar und Engelskirchen (35,8 Prozent und 31,7 Prozent). „Wir wissen nicht, woran das liegt“, sagte Mäuer. „Bei der Krebsfrüherkennung sieht es besser aus.“
Ein Dauerbrenner ist der Ärztemangel. „Uns fehlen Ärzte. […] Wir reden schon gut 20 Jahre über die Unterversorgung. Seitdem ist nicht viel passiert“, sagte Mäuer. Zwar gebe es unterschiedliche Programme, vernetzt seien diese aber nicht. Auch Geld würde nicht mehr Ärzte schaffen. Außerdem würden viele junge Ärzte das Bild des klassischen Hausarztes für sich ablehnen und lieber in Teilzeit, in einer Gemeinschaftspraxis oder in einem MVZ, einem Medizinischen Versorgungszentrum, arbeiten. Schaut man sich die Versorgungsgrade zur hausärztlichen und fachärztlichen Versorgung an, dann liegen diese durchweg im grünen Bereich. Mit der Realität habe das laut Lopez aber nichts zu tun. Die Grundlage für die Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung hinsichtlich der Arztsitze sei veraltet. „Wir haben einen viel höheren Bedarf“, sagte Mäuer. Dabei sei das Defizit bei den Hausärzten größer als bei den Fachärzten.
Mäuer machte deutlich, dass es ihm dabei nicht um eine Anklage geht. „Wir wollen ins Gespräch kommen und dazu einladen, zusammen zu diskutieren.“ Wichtig sei, das System effektiver und effizienter zu gestalten. Ein Ansatz liege in der Zusammenarbeit von Haus- und Fachärzten – hier sieht die AOK ein Defizit. Patienten würden zum Teil bei Fachärzten in Behandlung bleiben, obwohl sie nicht schwer erkrankt sind. Damit würden Termine blockiert werden, die an anderer Stelle gebraucht werden. Andererseits gebe es Patienten, die gar nicht weiterversorgt werden. Ein wesentlicher Faktor sei dabei der fehlende Informationsfluss. Umso wichtiger sei eine digitale, aber auch eine regionale Vernetzung der Ärzte.
Den Gesundheitsreport 2025 finden Interessierte unter https://www.aok.de/pk/rh/gesundheitsberichterstattung/.
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