FUSSBALL
„Ich habe nochmal Glück gehabt“
Wiehl – Aus gesundheitlichen Gründen musste der Wiehler Fußballer Ali Can Gültekin fast acht Monate pausieren – Eine schwere Erbkrankheit und ein Bandscheibenvorfall brachte das Leben des 28-Jährigen ins Wanken – Jetzt ist er bereit, seine Geschichte zu erzählen und will junge Menschen dazu bewegen, auf ihre Gesundheit zu achten.
Von Thomas Giesen
Auf diesen einen Moment hat Ali Can Gültekin lange gewartet. Fast acht Monate Zwangspause lagen hinter dem Fußballer des FV Wiehl. Es waren Monate voller Schmerzen, Sorgen und Niederschläge. Mit dem Trainingsauftakt beim Landesligisten endete für den 28-Jährigen die schwierigste Zeit in seinem Leben. „Ich war überglücklich, wieder auf dem Platz zu stehen. Es kam mir vor, als wären schon fünf Jahre vergangen. Ich werde diesen Moment, als ich den Platz betreten habe, nie vergessen. Es war der Moment, den ich mir in den Monaten, als ich vor Schmerzen kaum aus dem Bett kam, immer gewünscht habe. Und dann war es so, als wäre nie etwas passiert“, beschreibt Gültekin seine Gefühlswelt.
Angefangen hatte es im vergangenen Jahr in der Vorbereitung auf die neue Fußballsaison. Der Bergneustädter war längst wegen seines Jura-Studiums nach Gießen gezogen, wechselte zur Saison 2023/24 vom FV Wiehl zur dort beheimateten SG Türk Ataspor und wurde schnell zur Führungsfigur. 34-Mal stand der Mittelfeldspieler für seine Mannschaft auf dem Platz und erzielte dabei sechs Tore. Dann begann die Leidenszeit. „Ich habe beim Krafttraining plötzlich einen Stich im Rücken gespürt. Die Schmerzen haben bis in meinen Fuß ausgestrahlt und haben auch im Alltag nicht aufgehört. Beim Orthopäden wurde dann ein großer Bandscheibenvorfall festgestellt. Sofort sollte ich eine Tasche packen und ins nahegelegene Braunfelser Krankenhaus fahren“, schildert Gültekin die Diagnose.
Mehrere Tage verbrachte er dort stationär, schnell wurde ihm geraten, operativ eine künstliche Bandscheibe einsetzen zu lassen. „Der Arzt sagte, dass es damit nicht mehr möglich wäre, uneingeschränkt zu laufen, geschweige denn, Fußball zu spielen. Aber ich wollte unbedingt weiterspielen, sodass wir uns entschieden haben, es mit einer konservativen Behandlung zu versuchen“, berichtet Gültekin. Doch besser wurde es nicht. Im Gegenteil. Taubheitsgefühle im rechten Bein stellten sich ein, weil der Ischiasnerv erheblich eingeklemmt war. Belastung sei kaum möglich gewesen. Nicht mehr als 300 Schritte am Tag habe er noch geschafft und Schmerzen waren Alltag – und das mitten in der Vorbereitungszeit auf das erste Staatsexamen. Ein Kontroll-MRT im August habe gezeigt, dass keine Besserung eingetreten sei. Als seine Verlobte eines Tages feststellte, dass sein rechtes Bein erheblich dünner war als das gesunde linke, machte sich Angst breit.
„Das war ein Schock. Mir ist das gar nicht aufgefallen. Da hatte ich das erste Mal das Gefühl, dass ich richtig krank bin und wir haben uns gleich nach Absprache mit den Ärzten für die Operation entschieden“, sagt Gültekin. Doch es sollte noch schlimmer kommen. In der Zeit vor dem Operationstermin stellte der 28-Jährige eines morgens fest, dass sein linker Arm eine bläuliche Färbung hatte und suchte, mittlerweile sensibilisiert von seiner eigenen Leidensgeschichte, sofort die Notaufnahme auf. Dort wurde bei Gültekin eine Thrombose in der Schlüsselbeinvene festgestellt. Ein Zusammenhang mit dem Bandscheibenvorfall wurde ausgeschlossen. Gültekin bekam blutverdünnende Medikamente, Kompressionsstrümpfe und noch eine schlechte Nachricht mit auf den Weg: „Die Operation wurde mir vom Gefäßchirurgen sofort verboten. Die Gefahr für etwaige Komplikationen sei zu hoch und der Eingriff in Verbindung mit der akuten Thrombose lebensgefährlich.“
Und so ging es weiter mit täglichen Schmerzen und einer erheblichen Beeinträchtigung im Alltag. Die schmerzstillenden Medikamente hinterließen nun auch zunehmend ihre Spuren. Leichte innere Blutungen und Hautveränderungen stellten sich ein. Für Gültekin ein Wendepunkt: „Als ich das gesehen habe, fragte ich mich: Was passiert hier eigentlich mit mir? Das war der Tag, an dem ich mir neue Fußballschuhe ausgesucht und bestellt habe. Ich bin seit 22 Jahren leidenschaftlicher Fußballer. Ich bin schon als Baby in ein gelb-rotes Trikot von Galatasaray Istanbul gesteckt worden. Die Schuhe sollten mich immer daran erinnern, dass ich eines Tages wieder auf den Platz will. Sie haben mir den Halt und den Glauben gegeben, dass ich das schaffe.“ Voller Motivation nahm er sich vor, rauszugehen und Schritte zu machen. „Ich konnte nur gerade Strecken gehen, sobald es hoch ging, machte das betroffene Bein nicht mehr mit.“ Trotz allem machte sich Hoffnung breit.
Doch der nächste Nackenschlag sollte nicht lange auf sich warten lassen und es sollte der härteste von allen sein. „In der Folge der Thrombose wurden einige Tests gemacht und bei einem Bluttest hat sich herausgestellt, dass ich eine Faktor-2-Mutation habe“, so die niederschmetternde Nachricht. Eine „Faktor-2-Mutation“ oder „Prothrombin-Mutation“ ist eine Veränderung in der Erbinformation, die zu einer Blutgerinnungsstörung führt. Das Blut der betroffenen Menschen mit dieser Gerinnungsstörung neigt dazu, schneller zu verklumpen. So ergibt sich ein erhöhtes Risiko für Gefäßverschlüsse, die in ihrer schwersten Form zum Herzinfarkt, Schlaganfall oder einer Lungenembolie führen. Die Prothrombin-Mutation selbst ruft keine spürbaren Symptome hervor. Erst, wenn eine Thrombose oder eine Embolie entsteht, treten auch Beschwerden auf. Zwischen zwei und drei Prozent der Menschen in Deutschland leiden unter der genetischen Veränderung, die meist vererbt wird und nicht heilbar ist.
Bei einem Kontrolltermin in der Neurologie gab es bezüglich des Bandscheibenvorfalls weitere schlechte Nachrichten. „Man sagte, dass die Muskulatur im Rücken, aber vor allem im rechten Bein, bereits erheblich nachgelassen hätte und es sein könne, dass eine Restschwäche bleibt. Die Ärztin meinte noch zu mir: Machen sie mal was Schönes. Gehen sie mal ein Eis essen. Ich sehe ihnen am Gesicht an, dass es ihnen schlecht geht. Auch meine Freunde haben mir gesagt: Ali, wir kennen dich nun schon lange, aber du siehst aus wie 40“, beschreibt Gültekin, dass er einen Tiefpunkt erreicht hatte. Auch das Staatsexamen, das er im Oktober ablegen wollte, war um ein Jahr verschoben worden. Eine Veränderung musste her. „Wir sind dann zurück ins Oberbergische und haben innerhalb von zehn Tagen ein Haus in Dieringhausen gekauft. Das war die richtige Entscheidung. Ich brauche meine Familie und meine Freunde, die mir Halt geben. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft“, so Gültekin, der nicht lange warten musste, bis sich ein Gespräch mit seinem ehemaligen Trainer beim FV Wiehl, Sascha Mühlmann, ergab.
„Ich habe ihm gesagt, dass ich den Traum habe, wieder Fußball zu spielen. Ich war zu diesem Zeitpunkt im November ein Wrack, aber er hat mir, trotz allem, gesagt, dass er an mich glaubt, hat mir eine Chance gegeben und wir einigten uns schnell. Er hätte die Position im Kader auch mit einem anderen Spieler besetzen können. Einem, der ihm sofort weiterhilft. Aber er sagte, dass er mir alle Zeit der Welt gibt, wieder fit zu werden. Das hat mir Hoffnung und einen Push nach vorne gegeben. Dafür bin ich Sascha und dem FV Wiehl sehr dankbar. Er war schon immer ein besonderer Mensch für mich, aber das hat mir nochmal gezeigt, was für ein super Typ er ist.“ Gültekin begann wieder damit, Schritte zu machen, fuhr im November wieder Fahrrad und entschied sich, am Silvestertag erstmals wieder laufen zu gehen. „Ich wurde von allen für bescheuert erklärt, aber ich wollte das Jahr unbedingt positiv abschließen. Zuerst habe ich nur zwei Kilometer geschafft. Aber das war mir egal. Ich war auch zu meinen besten Zeiten nie ein Laufwunder. Aber es war gut für meine Psyche. Im Januar waren es dann irgendwann vier Kilometer und ich habe mich langsam gesteigert. Mittlerweile kann ich voll trainieren, auch wenn die Muskulatur noch nicht wieder ganz hergestellt ist“, ist er begeistert von der Entwicklung.
Die Rückenmuskulatur hat er in der Zeit gezielt trainiert. Die lange Zwangspause zuvor half offenbar auch dabei, dass sich der Bandscheibenvorfall reduzierte. Beseitigt ist der Schaden aber nicht. Eine Operation werde wieder ein Thema, wenn die Beschwerden zurückkehren. Geblieben sind die Kompressionsstrümpfe, die er an beiden Beinen und am linken Arm täglich tragen muss. Die blutverdünnenden Medikamente gehören ebenfalls für unbestimmte Zeit zum Alltag.
Gültekin erklärt, dass ihn die Leidenszeit verändert habe. Jetzt ist er bereit, seine Geschichte zu erzählen und anderen Mut machen. „Die Zeit hat mich als Mensch gestärkt und mich erwachsener gemacht. Sie hat mir gezeigt, dass Gesundheit das Wichtigste ist. Ich habe nochmal Glück gehabt. Der Thrombus in meiner Schulter hätte sich lösen und in die Lunge wandern können. Dann ist eine Lungenembolie nicht weit“, erklärt er, dass die Geschichte auch tödlich hätte ausgehen können. „Mittlerweile genieße ich jede Sekunde auf dem Platz und in der Kabine. Die Gesundheit ist das wichtigste Gut eines Menschen. Sie zu pflegen und regelmäßige Check-Ups zu machen, egal in welchem Alter, sollten für jeden zur Routine werden.“
Am 9. Februar absolvierte Gültekin derweil die ersten 25 Minuten im Testspiel gegen Rheinsüd Köln. In den Fußballschuhen, die er sich vor Monaten zur Motivation gekauft hatte. „Das war noch einmal ein ganz anderes Gefühl. Aber das reicht mir nicht. Ich will sonntags wieder Pflichtspiele bestreiten, aber hauptsächlich will ich es für mich schaffen, denn für mich ist, unter allen unwichtigen Dingen, der Fußball das bei weitem Wichtigste.
ARTIKEL TEILEN