BLAULICHT

Kein Urteil: Prozess um Schüsse in Gummersbacher Fußgängerzone wird ausgesetzt

pn; 07.06.2024, 17:30 Uhr
Foto: Peter Notbohm ---- Ohne Urteil blieb der Prozess gegen einen 30-jährigen Gummersbacher (hier mit seinem Verteidiger (li.) und seinem gesetzlichen Betreuer) am Amtsgericht Gummersbach. Der Prozess wurde an die Große Strafkammer am Landgericht Köln verwiesen.
BLAULICHT

Kein Urteil: Prozess um Schüsse in Gummersbacher Fußgängerzone wird ausgesetzt

pn; 07.06.2024, 17:30 Uhr
Gummersbach – Nachdem ein psychiatrisches Gutachten dem Angeklagten eine schwere Persönlichkeits- und Verhaltensstörung attestiert, musste der Prozess an das Landgericht Köln verwiesen werden.

Von Peter Notbohm

 

Als der Vorsitzende Richter Ulrich Neef die entscheidenden Sätze sagt, ist Alex H. (Anm.d.Red.: Name geändert) schon längst nicht mehr im Saal, sondern schon auf dem Weg ins Gefängnis. Der Prozess gegen den 30-jährigen Angeklagten, der nach einem räuberischen Diebstahl und einer Messerattacke im vergangenen Herbst von mehreren Polizisten in der Gummersbacher Fußgänger angeschossen worden war (OA berichtete und OA berichtete), wurde ausgesetzt und an die Große Strafkammer am Landgericht Köln verwiesen. Die Richter dort werden das Verfahren komplett von vorne aufrollen müssen.

 

Der Grund: Nachdem das psychiatrische Gutachten nach vier langen Prozesstagen nun vorliegt, kommt eine Unterbringung in einer Psychiatrie in Betracht. Darüber darf allerdings kein Amtsgericht urteilen, sondern muss durch ein Landgericht erfolgen. Eine verminderte Schuldfähigkeit sei nicht auszuschließen.

 

Kombinierte Persönlichkeits- und Verhaltensstörung, aber keine paranoide Schizophrenie

 

Zuvor hatte die psychiatrische Gutachterin minutenlang über den Geisteszustand von Alex H. referiert und wie seine Taten einzuordnen sind. Ihr Ergebnis: Der Gummersbacher hat vermutlich bereits in Kindertagen eine kombinierte Persönlichkeits- und Verhaltensstörung entwickelt. Diese habe sich im Erwachsenenalter unter Einfluss von Alkohol, Drogen und anderer Substanzen zunehmend verfestigt und verschlimmert. „Wir haben es hier mit einem überdauernden Muster an Verhaltensauffälligkeiten zu tun“, so die Gutachterin.

 

Der Angeklagte verfalle immer wieder in ein aggressiv-impulsives Verhalten und habe ein Problem mit negativen Erlebnissen und Kränkungen. „Seine Impulsivität ist höher als bei normalen Menschen. Auf einer Skala von eins bis zehn ist er dauerhaft bei einer acht oder neun – ein unerträglicher Zustand für diese Menschen“, erklärt die Gutachterin. Dabei zeige der Gummersbacher eine geringe Frustrationstoleranz und eine deutliche Tendenz, die Schuld stets bei anderen zu suchen. „Die dissozialen Persönlichkeitsanteile ziehen sich wie ein roter Faden durch sein Leben. Er neigt zu einer gewissen Empathielosigkeit und Egozentrik. Sein Verhalten ist dabei selbstschädigend und rücksichtslos.“

 

Die Störung sei zwar medikamentös runterfahrbar, aber nur schwer zu behandeln. Die Gutachterin stellte ihm eine „sehr ungünstige“ Prognose für die Zukunft aus. Von einer paranoiden Schizophrenie wollte sie allerdings nicht sprechen: „Ich habe noch keinen Schizophrenen erlebt, der von sich sagt, dass er schizophren ist. Das gestehen sich diese Menschen nicht ein.“

 

Angeklagter verlässt während des Prozess den Saal

 

Ein Exempel seiner Impulsivität erlebte auch das Gericht am Freitag. Während der Adoptivvater des Mannes unter Ausschluss der Öffentlichkeit über die Probleme seines Sohnes sprach, wurde der sonst so teilnahmslos wirkende Angeklagte laut und entschied in der Folge nicht mehr am Prozess teilnehmen zu wollen – er verließ den Saal und überließ seine Verteidigung seinem Rechtsanwalt Udo Klemt. Das immerhin auf seinen eigenen Beinen. Bislang hatte er den Prozess in einem Rollstuhl sitzend verfolgt. Zu Prozessbeginn hatte sein Verteidiger noch gesagt, dass unklar sei, ob sein Mandant wegen der durch die Schüsse verletzten Nerven jeweils wieder laufen könne.

 

Messerattacke war nicht der erste Angriff auf Polizisten

 

Zuvor hatte sich das Gericht noch mit den ausstehenden Zeugenaussagen und dem noch nicht behandelten dritten Tatkomplex befasst. Neben der Messerattacke auf einen Polizisten in der Gummersbacher Innenstadt (OA berichtete) und dem Steinwurf auf seinen Vermieter in Windhagen (OA berichtete) soll Alex H. am 24. Juni des vergangenen Jahres auch zwei Polizisten in Dieringhausen angegriffen und Widerstand gegen seine Festnahme geleistet haben.

 

Nachdem der 30-Jährige einer Frau einen etwa 2,5 Zentimeter dicken Kieselstein an den Kopf geworfen haben soll, wollten die Beamten den Gummersbacher am Bahnhof in Dieringhausen kontrollieren. Dort soll Alex H. aber sofort gewalttätig geworden sein und einer Polizistin ins Gesicht geschlagen haben. Bei der daraus resultierenden Schlägerei, in der der Mann auch mehrfach zugebissen haben soll, zog sich ein weiterer Beamter neben einer blutenden Nase auch eine Außenbandzerrung des linkes Fußes zu – er war sechs Wochen dienstunfähig.

 

Polizist: „Mittlerweile sollte bekannt sein, wie gefährlich Messer sind“

 

Interessant auch die Aussage eines Mitarbeiters des Gummersbacher Ordnungsamtes, der vom Angeklagten im November ins Gesicht geschlagen worden war, nachdem er ihm einen Platzverweis am Busbahnhof in Gummersbach erteilt hatte. „Ich musste ihm zwei Stöße Reizgas verpassen, aber das wirkte überhaupt nicht. Er hat sich nur geschüttelt, als ob er Wasser ins Gesicht bekommen hätte.“ Auch die Polizisten hatten im Vorfeld der Schüsse in der Innenstadt eine volle Ladung Pfefferspray angewandt. Auch sie hatten ausgesagt, dass dies überhaupt keine Wirkung gezeigt habe.

 

Vor Gericht sagte heute zudem der Beamte aus, der unmittelbar vor den Schüssen in der Innenstadt noch versucht hatte, den 30-Jährigen mit einem Stuhl aus der Außengastronomie des Backwerks niederzuschlagen. Im Hinblick auf die bundesweiten Messerattacken der letzten Wochen verteidigte er den Einsatz des Stuhls: „Mittlerweile sollte bekannt sein, wie gefährlich Messer sind. Der Stuhl bot mir mehr Schutz als der Einsatz eines Schlagstocks.“ Auf eine Elektroschockpistole habe er nicht zurückgreifen können, da „der Oberbergische Kreis keine Taser hat“.

 

Eine rechtsmedizinische Gutachterin sagte indessen aus, dass die Klinge des Teppichmessers, mit der Alex H. einen Polizisten am Nasenbein verletzt haben soll, vermutlich ausgefahren war und die Verletzungen nicht durch die Metallschiene entstanden sind. Dafür spreche die glattrandige Wunde. Eine ordentliche Portion Glück attestierte sie auf Nachfrage des Richters zudem dem angeschossenen Passanten, der nach einem Bericht des WDR weiterhin enttäuscht vom Entschädigungsverhalten der oberbergischen Polizeibehörde ist.

 

Familie hofft, dass dem Angeklagten in der Psychiatrie geholfen wird

 

Rechtsanwalt Udo Klemt sprach im Anschluss an die richterliche Verweisung gegenüber Oberberg Aktuell von der „richtigen Herangehensweise“ des Gerichtes: „Ich hoffe dieses Verfahren trägt dazu bei, dass Polizisten im Hinblick auf den schwierigen Umgang mit psychisch Kranken besser geschult werden und vor allem auch, dass bei den Beamten bekannt ist, wer vor Ort psychisch beeinträchtigt ist. Und vielleicht könnte man auch nochmal über den Taser nachdenken.“

 

Der Adoptivvater des Angeklagten hofft, dass seinem Sohn im Anschluss an das anstehende Urteil am Landgericht in einer Psychiatrie nun endlich geholfen werden kann. Der bisherige Haftbefehl gegen Alex H. wurde bis zum Beginn des Prozess in Köln in einen Unterbringungsbefehl in einer Essener Klinik umgewandelt.

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