BLAULICHT
Schüsse in Gummersbacher Fußgängerzone: Keine Entschädigung für angeschossenen Passanten?
Gummersbach - Angeklagter verfolgt das Verfahren gegen ihn weitgehend mit geschlossenen Augen - Zeugin berichtet, dass er kurz vor den Schüssen "wie von Sinnen" gewirkt habe - Arzt spricht von schwerer Persönlichkeitsstörung.
Von Peter Notbohm
Er sei „leider just in time“ in der Gummersbacher Fußgängerzone erschienen, sagte heute ein 43-jähriger Gummersbacher im Prozess um die Schüsse vor der Bäckerei Backwerk in der Innenstadt am 14. November des vergangenen Jahres (OA berichtete und OA berichtete). Er sei auf dem Weg in die Mittagspause gewesen, habe noch Mails verschickt, während er die Treppe in Richtung Kampstraße hochgegangen sei. Das nächste, an was er sich erinnert: Geschrei, Schüsse und ein stechender Schmerz im Hintern.
Einer der 15 Schüsse, den die Polizisten damals im Rahmen der Maßnahme gegen Alex H. (Anm.d.Red.: Name geändert), einen 30-jährigen Gummersbacher, der sich seit vergangener Woche am Amtsgericht Gummersbach u.a. wegen schweren gefährlichen Diebstahls, Wiederstands gegen die Polizei und gefährlicher Körperverletzung verantworten muss (OA berichtete), durchschlug seine rechte Pobacke.
Auf seiner Hose habe sich sofort ein roter Fleck gebildet, der immer breiter wurde. „Ich habe mich sofort in den Rossmann begeben und dort auf einen Arzt gewartet“, berichtete der 43-Jährige weiter. Im Krankenhaus sei er später operiert und genäht worden. Die Wulst, die sich an der Eintrittswunde gebildet hat, müsse noch gelasert werden, längeres Sitzen bereitet ihm heute noch Probleme. Psychische Probleme hat der Gummersbacher laut eigener Aussage nicht, trotzdem ist er enttäuscht.
Denn: Er ist bis heute nicht entschädigt worden. „Die Staatsanwaltschaft hat meinem Anwalt mitgeteilt, dass das Handeln der Polizei damals verhältnismäßig gewesen sei und ich kein Schmerzensgeld kriegen werde.“ Beim Vorsitzenden Richter Ulrich Neef löste das Verwunderung aus: „Sie gehen durch die Fußgängerzone und werden schuldlos angeschossen. Vielleicht habe ich im Studium nicht richtig aufgepasst, aber ich habe Staatshaftungsrecht anders verstanden.“
In Nordrhein-Westfalen werden Entschädigungsansprüche nach Paragraph 67 des Polizeigesetzes vorgenommen. Verantwortlich ist das Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste (LZPD) in Duisburg. Gegenüber dem WDR hatte ein oberbergischer Polizeisprecher berichtet, dass zumindest die damals entstandenen Sachschäden mittlerweile beglichen seien. Der 43-jährige Angeschossene sagte, er wolle mit seinem Anwalt um eine Entschädigung kämpfen.
Kein Interesse an Schadensgeld hat hingegen ein 75-jähriger Gummersbacher, der sich im Nachhinein gemeldet hatte, weil ein Projektil seine Brust getroffen hatte. Der Mann hatte von dem Einsatz in der Innenstadt laut eigener Aussage kaum etwas mitbekommen. „Ich war mit mir selbst beschäftigt und habe nur einen harten Schlag gegen die Brust bemerkt.“ Er sei noch mit seiner Frau zum Einkaufszentrum Bergischer Hof und dem Steinmüllergelände gegangenen und habe erst zu Hause bemerkt, dass er ein kleines Loch in seinem Oberteil hatte. „Mehr als ein Bluterguss und eine kleine Wunde war das aber auch nicht. Nach drei Tagen war davon nichts mehr zu sehen“, sagte er gegenüber Oberberg-Aktuell.
Angeklagter verfolgt Prozess mit geschlossenen Augen
Wie viel Alex H. von diesen beiden Aussagen und den 14 weiteren Zeugen am zweiten Prozesstag mitbekommen hat, ist nur schwer zu sagen. Immer wieder schloss der 30-Jährige in seinem Rollstuhl, in dem er seit den Schüssen sitzt, minutenlang die Augen, wirkte geistig abwesend, phasenweise sogar schlafend. Nur ab und zu reckte er sich, blickte kurz in die Zuschauerreihen in Richtung seiner Familie und starrte anschließend wieder vor sich ins Leere, ehe die Augen erneut zugingen.
In welchem Geisteszustand der Angeklagte damals auf die Polizeibeamten losgegangen sein soll, war eine der Hauptfragen, die das Schöffengericht heute versuchte zu klären. Eine 66-jährige Passantin aus Engelskirchen, die über 40 Jahre als Sozialpädagogin in einem Sozialwohnheim gearbeitet hat, berichtete, dass er aus ihrer beruflichen Erfahrung heraus auf sie „panisch, verängstigt und angespannt“ gewirkt habe: „Er war wie von Sinnen und für mich in einer Situation, die er nicht erkannt hat.“
Ähnliches berichteten auch andere Zeugen. Manche sagten aber auch aus, dass der Angeklagte wie in Rage auf die Polizisten losgegangen sei. Das Geschehen gaben alle sehr ähnlich wider, wichen in Detailfragen in ihren Aussagen aber auch voneinander ab.
Angaben hat zudem der Arzt gemacht, der den Angeklagten schon mehrfach vor der Tat geistig untersucht hatte. Er sprach von einer schweren Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen Instabilitäten und kurzzeitigen psychotischen Phasen durch Konsum von Alkohol und Drogen bei dem Gummersbacher. Eine ständige Psychose habe er dem Mann aber nicht erkennen können. Aus Berichten wisse er aber, dass der Angeklagte schon als Kind früh auffällig gewesen sei und eine schwere Bindungsstörung gehabt habe, die sich im Erwachsenenalter dann als Persönlichkeitsstörung mit dissozialem Verhalten manifestiert habe. Suizidales Verhalten wollte er ihm nicht attestieren. Er könne sich aber vorstellen, dass Menschen mit seinem Krankheitsbild in solchen Ausnahmesituationen „nicht mehr adäquat auf Außenreize reagieren“.
Verteidiger hofft für die Zukunft auf Umdenken bei Behörden
Udo Klemt, der Verteidiger von Alex H. bekräftigte gegenüber Oberberg-Aktuell noch einmal, dass er hoffe, dass dieser Prozess dazu führt, dass sich etwas ändert: „Mein Mandant war stadt- und weitgehend polizeibekannt. Vielleicht führt dieser Prozess ja dazu, dass künftig nicht nur von Rockern und Intensivtätern Fotos auf Polizeiwachen intern ausgehangen werden, sondern auch von psychisch kranken Menschen, damit Polizisten wissen, mit wem man in der Ansprache etwas anders umgehen muss.“
In das Verfahren eingeführt wurde zudem das Vorstrafenregister von Alex H.: Mehrere Verfahren wegen Betäubungsmittelbesitzes, Bedrohung, Diebstahls, Körperverletzung und Nötigung wurden zwischen 2020 und 2023 eingestellt. Zu einer Geldstrafe verurteilt wurde er nur einmal wegen tätlichem Angriffs auf Vollstreckungsbeamte, Körperverletzung, Beleidigung und Bedrohung. Der 30-Jährige hatte im Dezember 2022 im betrunkenen Zustand (1,2 Promille) einem Ordnungsamtsmitarbeiter den Mittelfinger gezeigt, ihn mehrfach schwer beleidigt, einmal ins Gesicht geschlagen und anschließend noch angekündigt, ihn umbringen zu wollen.
Der Prozess wird fortgesetzt.
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