LOKALMIX
„Die Kapazitätsgrenze ist erreicht“
Oberberg – Bei der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen stoßen die Jugendämter des Oberbergischen Kreises und der Stadt Gummersbach an ihre Grenzen – Pflegefamilien gesucht.
In einer intakten und behütenden Familie aufzuwachsen, ist nicht jedem Kind vergönnt. Manche Kinder und Jugendliche werden vernachlässigt, einige erleben körperliche, psychische oder sexuelle Gewalt, manchmal sind Eltern schlichtweg überfordert, erkranken oder werden inhaftiert, und manche Kinder und Jugendliche werden von Jugendämtern unterstützt, weil Mutter, Vater oder gar beide Elternteile verstorben sind. Gründe, warum Heranwachsende in Heimen oder Pflegefamilien untergebracht werden, gibt es viele – und seit Oktober ist auch klar, dass die Fallzahlen landesweit steigen.
Wie bereits berichtet, hat Information und Technik Nordrhein-Westfalen (IT.NRW) als Statistisches Landesamt vor rund zwei Monaten mitgeteilt, dass im vergangenen Jahr mindestens 58.422 junge Menschen in Heimen, bei Pflegefamilien oder in anderen betreuten Wohnformen gelebt haben. Im Vergleich zu 2022 entspricht das einem Anstieg von 2,4 Prozent (Vorjahr: 57.077). OA hat bei der Stadt Gummersbach und auch beim Oberbergischen Kreis erfragt, wie sich die Situation bei ihren Jugendämtern darstellt, welche Herausforderungen sie sehen und auch, wie es um eine Trendumkehr steht.
„Wir versuchen alles, damit es nicht zur Entziehung eines Kindes kommt“, sagte Sarah Hedfeld als Leiterin des Jugendamts der Stadt Gummersbach. Sie machte deutlich, dass ein Kind erst dann aus einer Familie genommen werde, wenn alle vorherigen Maßnahmen ohne Erfolg geblieben seien. Trotz dieser Bemühungen sieht sie den landesweiten Trend aber in Gummersbach bestätigt. 2017 habe es bei dem Jugendamt noch 62 Fälle gegeben, in denen Heranwachsende in einem Heim oder einer anderen betreuten Wohnform untergebracht worden sind; im vergangenen Jahr seien 99 Fälle gezählt worden – so viele wie in diesem Jahr bereits im Oktober. Einen eklatanten Anstieg gäbe es darüber hinaus bei den Inobhutnahmen: habe es hier 2020 pro Monat rund 3,08 Fälle gegeben, würden nun rund 7,3 Fälle anfallen.
Beim Jugendamt des Oberbergischen Kreises stellt sich die Lage anders dar. Laut Kreisjugendamtsleiter Stefan Heße sei ein klarer Aufwärtstrend in den Zahlen nicht zu erkennen. In der Statistik werde unterschieden zwischen neuen Fällen und Bestandsfällen. Demnach seien am 31. Dezember 2023 insgesamt 451 Kinder und Jugendliche durch das Kreisjugendamt untergebracht gewesen. Neue Fälle wurden beim Kreis im vergangenen Jahr 129 gezählt, darunter auch 41 unbegleitete minderjährige Geflüchtete. Auf die Frage, warum sich der Trend beim Kreisjugendamt nicht niederschlage, sagte Heße: „Wir hatten schon ein hohes Niveau, andere ziehen jetzt vielleicht nach.“ Außerdem würde man auch beim Kreis versuchen, „viel über die Hilfen zur Erziehung abzufangen“. In diesem Bereich würden die Fallzahlen moderat ansteigen.
Die Ursachen für ein (landesweites) Ansteigen der Fallzahlen seien laut Sarah Hedfeld schwierig zu benennen. Sie dachte dabei an die Ausläufer der Coronapandemie, die demographische Entwicklung, die Krisen und Kriege in der Welt, dass die Bevölkerung stetig wachse und auch, dass es im Land viele unbegleitete Geflüchtete gebe. Hedfeld sprach aber auch über die Neuerungen im Sozialgesetzbuch (SGB) 8, dabei insbesondere über das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz, das seit Juni 2021 in Kraft ist. Die Mitarbeiter seien heute besser geschult als noch vor einigen Jahren, außerdem gebe es mittlerweile in jeder Einrichtung Kinderschutzkonzepte sowie ein gut funktionierendes Netzwerk, dem beispielsweise Schulsozialarbeiter, Kitas, Hebammen und Kinderärzte angehören – und es gebe mehr Meldungen als noch vor einigen Jahren. So hätten die Menschen keine Scheu mehr, Auffälliges zu melden, sagte Hedfeld.
Doch bei der Unterbringung der Kinder kämen die Jugendämter oft an ihre Grenzen. „Die Kapazitätsgrenze ist erreicht“, sagte Stefan Heße. Vor Ort gäbe es nicht ausreichend Plätze, sodass für die Kinder und Jugendlichen deutschlandweit nach einem Platz gesucht werde. „Die Kinder werden zum Teil durch ganz Deutschland gefahren“, schilderte Sarah Hedfeld. So könne es durchaus sein, dass ein Kind aus Gummersbach in Flensburg landet. „Wir fahren manchmal 600 Kilometer. Das ist Standard geworden“, sagte sie. Es fehle an Platz und Trägern. Manchmal seien die Mitarbeiter auf der Suche nach einem freien Platz eine ganze Woche damit beschäftigt, deutschlandweit Anrufe zu tätigen. Nicht zuletzt sei das auch eine Belastungssituation für die Kollegen.
Eine große Herausforderung sei dabei aber auch, dass die Schwierigkeiten, die bei den Kindern vorliegen, multipler geworden seien. „Und das nimmt deutlich zu“, sagte Stefan Heße. In der Vergangenheit hätte bei den Kindern oftmals eine Problemlage bestanden. „Da konnte man gezielt dran arbeiten und schnell zum Erfolg kommen“, erklärte der Leiter des Kreisjugendamtes. Heute sei das anders – und auch schwieriger, ein passendes Angebot zu finden. Nicht jede Einrichtung würde auch jedes Kind nehmen. Oftmals gebe es in den Einrichtungen ein Bewerbungsverfahren. Aufgabe des Jugendamtes sei dann, für die Kinder und Jugendlichen ein Angebot zu finden, dass an allen vorliegenden Problemlagen arbeiten würde.
Eine große Unterstützung seien bei der Unterbringung Pflegeeltern. „Aber auch hier sind wir am Limit“, sagte Sarah Hedfeld. Doch klar sei auch: „Ohne die Pflegeeltern könnten wir keinen Kinderschutz mehr betreiben.“ Derzeit gebe es in Gummersbach etwa 50 Pflegefamilien. Die Leiterin des Jugendamtes hofft, dass noch einige Familien dazukommen. Wer sich dafür interessiert, könne sich ganz unverbindlich beim Jugendamt informieren. Vermittelt werden würden nicht nur Neugeborene oder „schwierige Kinder“, sagte Hedfeld. Möglich sei auch eine Teilzeit- oder Bereitschaftspflege. Der Oberbergische Kreis bietet im April 2025 einen Vorbereitungskurs für angehende Pflegeeltern an. Bei Interesse steht die Sachgebietsleitung des Pflegekinderdienstes, Sandra Zenker, per Mail an sandra.zenker@obk.de oder unter Tel.: 02261/88-5232 zur Verfügung.
Wenn ein Kind im Winter mit Sommerschuhen oder ohne Jacke unterwegs ist, häufig weinend vor der Tür steht, man mitbekommt, wie jemand die Wohnung zusammenschlägt, oder auch, wenn ein Kind blaue Flecken hat, ohne Essen in die Kita oder Schule kommt oder gar von Vorfällen berichtet: all das könne zeigen, dass es in der Familie einen Unterstützungsbedarf gebe. Wichtig ist laut Sarah Hedfeld, dass Erwachsene sich verantwortlich fühlen und nicht wegschauen, wenn ein Kind in Not ist. Dass eine baldige Trendumkehr realistisch ist, glauben die beiden Jugendamtsleiter aber nicht. Umso wichtiger sei es, präventiv zu arbeiten, schneller und früher zu agieren und die Familien in die Lage zu versetzen, auch als Familie zu funktionieren.
Entscheidend sei dabei auch, wie schnell ein Kind an Hilfe herankommen kann. So werde derzeit beim Kreisjugendamt daran gearbeitet, in den Kommunen niedrigschwellige Familienbüros zu eröffnen, wo Betroffene hingehen und nach Hilfe fragen können. „Das Jugendamt verbinden viele damit, dass das Kind weggenommen wird. Das ist aber sehr selten“, sagte Stefan Heße. Sehr häufig gehe es stattdessen um die Hilfe zur Erziehung. „Wir können über die Eltern viel erreichen – wenn wir die Eltern erreichen“, sagte der Leiter des Kreisjugendamtes abschließend.
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