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Keine Schuleingangsuntersuchungen: „Völlig unakzeptables Defizit“

lw; 03.06.2021, 06:00 Uhr
Symbolfoto: Semevent auf Pixabay
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Keine Schuleingangsuntersuchungen: „Völlig unakzeptables Defizit“

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lw; 03.06.2021, 06:00 Uhr
Oberberg – Pandemiebedingt gibt es ein anderes Vorgehen zur Ermittlung des Förderbedarfs bei Kindern – Scharfe Kritik des Direktors der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Von Lars Weber

 

Normalerweise werden im Oberbergischen Kreis jährlich 2.600 bis 2.700 Schuleingangsuntersuchungen durchgeführt. Ist die sprachliche Entwicklung altersgerecht, kann ein Stift vernünftig gehalten werden, wie steht es um die kognitive Entwicklung? Werden Defizite festgestellt, werden Kinder dementsprechend gefördert, es wird über passende Schulen gesprochen oder die Einschulung noch zurückgestellt. Aufgrund der Pandemie und der Infektionsentwicklung im Kreis wurden und werden in diesem Jahr jedoch keine Einschulkinder zu Präsenzuntersuchungen eingeladen. OA hat nachgefragt, wie die Förderbedarfe bei den Kindern in diesem Jahr erkannt werden sollen und was Schulen, Kitas und ein Arzt davon halten.

 

So wird in diesem Jahr der Förderbedarf bei Einschulkindern ermittelt

 

Dem Gesundheitsamt sei es sehr wichtig, dass gerade Kinder mit gesichertem oder vermutetem Förderbedarf eine Begutachtung erhielten, um die Familien entsprechend zu unterstützen oder zu beraten, heißt es dazu. Dazu wurden die Grundschulleitungen gebeten, die Einschulkinder zu melden, wo ein Verfahren zur Ermittlung des sonderpädagogischen Förderbedarfs eingeleitet wird oder wurde beziehungsweise Kinder, wo beim Vorsprechen in der Schule anderer Bedarf festgestellt worden sei.  Auf dieser Grundlage wiederum seien die gemeldeten Familien angeschrieben worden, bereits vorhandene Unterlagen – zum Beispiel zu bereits laufenden Therapien – an das Amt zu schicken. Auch die Kitas wurden ins Boot geholt. „Die Familien erhielten einen Fragebogen an die Kita, damit das Gesundheitsamt in die Begutachtung die Erfahrungen aus der Kita mit einbeziehen kann, da gerade dort nicht nur die körperlichen Auffälligkeiten, sondern auch die sozial- emotionale Entwicklung beurteilt werden können.“  

 

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Die Begutachtungen im Rahmen der sonderpädagogischen Förderbedarfsermittlung seien bereits abgeschlossen, die Begutachtungen der Zurückstellungen und der Kinder mit einem vermuteten Förderbedarf werde noch durchgeführt, so das Gesundheitsamt. „Das Verfahren ist insofern aufwendig, weil die Eltern, die Schulen, die Kita, die Kinderärzte und gegebenenfalls die Therapeuten durch den Schulärztlichen Dienst angerufen werden, um sich ein gutes Gesamtbild zu machen und die Eltern sowie die Schulleitungen suffizient zu beraten.“ Es seien insgesamt circa 550 Kinder gemeldet worden, mehr als 60 Prozent der Begutachtungen seien bereits erfolgt.

 

Schuleingangsuntersuchungen bei jenen Kindern, die nicht gemeldet wurden, seien nicht vorgesehen. Das Gesundheitsamt werde jedoch die Grundschulleitungen bitten, in der ersten Hälfte des ersten Schuljahres 2021/2022 Kinder mitzuteilen, die Auffälligkeiten in der Schule aufweisen, um gezielt auch diese Kinder zu untersuchen. „Hoffentlich als Präsenzuntersuchung.“ Dieses Prozedere sei mit dem Landeszentrum Gesundheit abgeklärt und entspreche der Erlasslage des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen.

 

Schulperspektive

 

Kai Stäpeler ist Leiter des Grundschulverbunds Wiehl-Marienhagen. Er hat Verständnis für die Vorgehensweise des Gesundheitsamts. „Die personelle Belastung dort ist aufgrund der Pandemie gerade sehr hoch.“ Auch der Infektionsschutz sei selbstredend wichtig. Der Rektor macht aber auch deutlich, dass die Verlässlichkeit, die sonst durch die Schuleingangsuntersuchungen gegeben ist, in diesem Jahr fehle. „Der Prozess ist dadurch mit Unsicherheiten belegt.“ Mit der Schuleingangsuntersuchung fehle neben der Einschätzung der Kita-Erzieher und der Einschätzung der Schule nach dem ersten Kennenlernen ein wichtiger Mosaikstein.

 

[Symbolfoto: pic_jumbo_com auf Pixabay.]

 

Immerhin: Die Anmeldegespräche der Schule mit den Einschulkindern und Eltern haben alle noch stattfinden können, es gab persönlichen Kontakt. „Dabei wird eine Eingangsdiagnostik gemacht, es wird nach Stärken, Schwächen und Auffälligkeiten geschaut.“  Aufgrund des fehlenden Mosaiksteins werden die Lehrer bei den Einschulkinder noch genauer hinschauen, um möglichst schnell Bedarfe zu erkennen, die bis zur Einschulung noch nicht aufgefallen sind. Stäpeler hofft, dass die Vorgehensweise dieses Jahr die Ausnahme bleibt: „Es wäre schön, wenn die hohe Expertise der Amtsärzte bald wieder voll genutzt werden kann.“

 

Kita-Perspektive

 

Birgit Kleese ist Kita-Fachbereichsleiterin im Johanniter Regionalverband Rhein/Oberberg, der Träger von insgesamt 25 Einrichtungen ist, in denen 1.400 Kinder betreut werden. „Wir haben Erfahrungskompetenz in der Einschätzung der Kinder, da für jedes Kind vor dem geplanten Schuleintritt qualitative Entwicklungsberichte verfasst werden“, gibt sie Auskunft. Die vom Kreis im jetzigen Verfahren zur Verfügung gestellten Fragebögen zur Einschätzung vom Förderbedarf der betreuten Kinder seien auf Wunsch der Eltern füllt ausgefüllt worden. „Die Eltern entscheiden dann, ob man den Bogen an das Gesundheitsamt übergibt – oder nicht.“

 

Beim Einschätzungsbogen handelte es sich laut Kleese um ein achtseitiges Dokument mit „ja“ / „nein“ Optionen zu unterschiedlichsten Fragen – vom Merkvermögen bis hin zur Motorik. Der Bogen reflektiere eher die Schul- als die Kita-Perspektive. „Da einige Kinder im vergangenen halben Jahr selten oder sogar gar nicht in der Kita waren, war die Einschätzung teilweise eine Herausforderung für die Mitarbeitenden, denn ein Kind kann auch in einem halben Jahr einen erheblichen Entwicklungsschritt machen.“ Generell fände Kleese es wichtig, die ganzheitliche Entwicklung des Kindes ins Blickfeld zu nehmen, und dabei könnten auch die umfassenden Entwicklungsberichte der Kitas helfen.

 

Medizinische Perspektive

 

Dr. Peter Melchers, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikum Oberberg (Foto), hält nicht viel von dem Vorgehen des Gesundheitsamts. Er kritisiert, dass dabei „aus fachlicher Sicht ein völlig unakzeptables Defizit“ bleibe, speziell unter Berücksichtigung der pandemiebedingt ohnehin sehr problematischen Entwicklungssituation der Kinder und ihrer Einschränkungen schulischer, sozialer und familiärer Aktivitäten. „In dieser Situation ist nicht nachzuvollziehen, dass auf Schuleingangsuntersuchungen verzichtet wird.“ Zumal im Moment hinsichtlich der Schulreife nicht nur auf die körperliche, kognitive und soziale Reife eines Kindes geschaut werden müsse, sondern auch auf in der gegenwärtigen Krise erworbene Verhaltensauffälligkeiten.

 

„Keinesfalls kann die persönliche ärztliche Untersuchung durch eine Begutachtung nach Aktenlage ersetzt werden“, sagt Dr. Melchers weiter. Es sei auch nicht förderlich für das Kinderwohl, wenn eine Begutachtung – auch dann noch ohne persönliche Untersuchung – erst nach Einleitung und Meldung eines Verfahrens zur Überprüfung des sonderpädagogischen Förderbedarfs durch die Schule erfolgt. „Muss ein Kind also erst einmal scheitern? Neben allen anderen problematischen Einflüssen schadet es der Entwicklung von Kindern sicherlich nachhaltig, erst einmal in einem gegebenen Setting Misserfolg zu haben, bevor die Reife für eben dieses Setting überhaupt beurteilt wird.“

 

Das umfasst eine Schuleingangsuntersuchung

 

Die Untersuchung umfasst einen Hör- und Sehtest, eine körperliche Untersuchung, die Beurteilung der Grob- und Feinmotorik, die sprachliche Entwicklung sowie die kognitive Entwicklung in unterschiedlichen Bereichen. Es erfolgt eine Impfberatung und eine Beratung zu Möglichkeiten, das Kind auf die Schulfähigkeit hin zu unterstützen.

KOMMENTARE

1

Das ist kaum zu glauben. Die meisten Kinder waren monatelang nicht im Kindergarten.
Misshandlungen und sexuelle Gewalt an Kindern ist während der Pandemie um mehr als 10% gestiegen. Mal ganz abgesehen von der psychischen Gesundheit vieler Kinder.....Und was macht das Gesundheitsamt des OBK?
Die setzen die Schuleingangsuntersuchung aus.

Simone, 03.06.2021, 07:24 Uhr
2

Es ist schon sehr verwunderlich das man solch eine Info aus den öffentlichen Medien entnehmen muss. Für uns als betroffene Eltern stimmt einen das sehr sehr nachdenklich!!! Es wäre schön wenn wir als Eltern diese Info auch mal von der Schule erhalten würden. Wir konnten bisher nur erahnen das so vorgegangen wird.
In Nümbrecht haben noch nichtmal die Anmeldegespräche stattgefunden.

Eine besorgte Mutter, 03.06.2021, 23:14 Uhr
3

Gerade jetzt, nachdem viele Kinder auf die Förderung durch die Kitas verzichten mussten, Erzieherinnen einige Kinder kaum gesehen haben, soll nach Aktenlage entschieden werden, ob ein Kind die nötige Schulreife erlangt hat? Wer genau trifft so eine beschämende und unsensible Entscheidung??
Da wird ( mal wieder! ) ganz deutlich, wo hier das Interesse am Wohlergehen der Kinder liegt!
Durch das Aussetzen der Schuleingangsuntersuchungen geht für die Kinder viel Zeit verloren, in welcher ein evtl. Förderbedarf hätte festgestellt werden können. Frühzeitige Fördermaßnahmen fallen ebenfalls weg. Jetzt werden nämlich erstmal wieder Monate vergehen, bis einige Defizite erkannt werden und nochmals wird Zeit verstreichen, bis gehandelt wird.
Einfach traurig und für manch ein Kind noch demütigend!

Bibi, 04.06.2021, 07:51 Uhr
4

Unfassbar, wo ist die Solidarität mit den jungen Mitgliedern der Gesellschaft... nicht vorhanden!

Anna, 04.06.2021, 08:53 Uhr
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