LOKALMIX
Migrationspolitik: Auf der Suche nach der Menschenwürde
Wiehl – „Oberberg ist bunt, nicht braun“ hatte zu Diskussion mit Birgit Naujoks, Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats NRW, ins Gemeindehaus der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde in der Hüttenstraße geladen.
Von Lars Weber
Es war erst wenige Stunden her, seitdem in Berlin ein Antrag der Union zu umfassenden Zurückweisungen von Asylbewerbern an der Grenze, dem Fünf-Punkte-Plan, im Bundestag mit den Stimmen der AfD-Fraktion eine Mehrheit bekommen hat. Rund 100 Menschen haben sich danach im Gemeindehaus der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde versammelt, und standen noch unter den Eindrücken der Geschehnisse, die thematisch zum Thema des Abends passten – auch wenn die Besucher sicherlich gut auf diesen Zufall hätten verzichten können. Der Verein „Oberberg ist bunt, nicht braun“ hatte eingeladen, um mit Birgit Naujoks, Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats NRW über Flucht, Migration und vor allem Menschenwürde zu sprechen, die gemäß ihren Ausführungen bei politischen Entscheidungen auf der Strecke bleibt – und das nicht erst seit der Entscheidung wenige Stunden zuvor.
Das ausgemachte Ziel des Abends sei es, die Menschenrechte und auch die Würde der Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten müssen, wieder in den Mittelpunkt der Debatten zu stellen, so der Verein „Oberberg ist bunt, nicht braun“, der auf der Bühne von Iris Traudisch und dem Vorsitzenden Gerhard Jenders vertreten wurde. Geflüchtete waren zwar nicht anwesend, dafür viele Bürgerinnen und Bürger, die sich in den oberbergischen Flüchtlingshilfen engagieren - und von ihren Erfahrungen berichteten.
So wie Vera Boy aus Wiehl. Ihre Einliegerwohnung stelle sie schon seit zehn Jahren Asylsuchenden zur Verfügung, zuletzt Razul aus dem Iran. Er habe dort fliehen müssen, weil er bei einem Gedenktag nicht erschienen war, sondern stattdessen bei seiner Frau im Krankenhaus verweilte, erzählte Boy auf der Bühne im Interview mit Iris Traudisch. Am nächsten Tag hätten die Mullahs vor seiner Tür gestanden und er musste verschwinden. Über Italien geht es für Razul nach Deutschland, nach Wiehl. Nachdem sie ihn aufgenommen hatten, habe sich eine Freundschaft entwickelt. Er hatte Deutsch gelernt, hatte eine unbefristete Arbeitsstelle, vom Ausländeramt wurde er trotzdem festgenommen, nachdem er eigentlich eine Einladung zur „Verlängerung der Duldung“ bekommen hatte.
[Iris Traudisch (li.) sprach mit Vera Boy über die Abschiebung eines befreundeten Iraners.]
Sie seien geschockt vom Vorgehen der Behörden gewesen. Sie hätten sich nicht einmal verabschieden können, obwohl sich Razul in dem Wagen befunden habe, der vor Boys Haus vorgefahren war, damit die Wohnung durchsucht werden konnte, erzählte die Wiehlerin. Davon, und von weiteren aufreibenden Diskussionen mit der Behörde, deren Vorgehen sie als maximal kritisierte. Zusammen mit dem Arbeitgeber Razuls werde gerade versucht, ihn „als unersätzliche Arbeitskraft“ zurückzuholen. In seiner Heimat müsse er weiterhin auf der Hut sein.
Die Geschichte Razuls ist nur eine von vielen. Sie sollte zeigen: Hier geht es um Menschen und soll wegführen von den Pauschalisierungen geflüchteter Personen, die nach den schrecklichen Taten von Solingen, Magdeburg oder Aschaffenburg von Medien und Politik vorangetrieben worden seien. „Es wird kaum auf die Hintergründe der Menschen geschaut, die für die Taten mutmaßlich verantwortlich sind“, so Birgit Naujoks. Stattdessen werde die Migrationsdebatte schon seit Jahren entmenschlicht, es gehe nur noch um Zahlen. Wie viele kommen? Wie viele bleiben? Wie viele konnten wieder abgeschoben werden? Ein weiteres Beispiel: Es werde vom „Kampf gegen irreguläre Migration“ gesprochen, so Naujoks. „Dabei haben die Menschen doch gar keine andere Wahl, als irregulär einzureisen.“ Sie könnten ja kein Visum beantragen.
Dabei habe das Bundesverfassungsgericht 2012 beschlossen: Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren, auch nicht zum Zwecke der Abschreckung der Menschen. „Der Gesetzgeber hat sich seitdem nicht immer dran gehalten“, so Naujoks, die in ihrem Vortrag die politische und gesellschaftliche Verschärfungsspirale in dieser Debatte freilegte und sezierte. „Es ist immer die gleiche Entwicklung. Wenn etwas passiert, sollen die Gesetze verschärft werden.“
Sie schaute auf Gesetzespakete der vergangenen zehn Jahre, auf die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), auf das Drei-Säulen-Paket NRWs, auf das „Gesetz zur Verbesserung der Rückführung“, auf die nahende Einführung der Bezahlkarte, das neue Grundsatzprogramm der CDU bis hin zum Fünf-Punkte-Plan von Merz für „sichere Grenzen und das Ende der illegalen Migration“. Die Rechtmäßigkeit der meisten Maßnahmen zweifelte die Expertin an, zum Beispiel, dass die Bundespolizei Haftbefehle für Abschiebehaft oder Ausreisegewahrsam beantragen können soll – dies sei klar Sache der Staatsanwaltschaft.
Während des Recht auf Asyl weiter beschnitten werde und viel Geld ausgegeben werden soll – zum Beispiel in NRW 300 Millionen Euro für eine zweite Abschiebungshafteinrichtung -, würden jene Mittel gekürzt oder gestrichen, die Teilhabe, Beratung und Begleitung ermöglichten. Dabei sei dies das beste Mittel zur Integration und gegen Radikalisierungsprozesse. „Die Regierung schneidet sich ins eigene Fleisch und macht Strukturen kaputt, die über Jahre aufgebaut wurden.“
Naujoks schloss mit einigen Thesen. „Schutzsuchende werden zu Sündenböcken für die verfehlte Sozialpolitik der vergangenen Jahre gemacht, ohne dass dadurch die tatsächlich besehenden Probleme gelöst werden.“ Stattdessen werde die Spaltung der Gesellschaft, die Gefährdung der Demokratie, der Rechtstaatlichkeit und der Menschenrechte vorangetrieben. „Menschenrechte gelten für alle oder für niemanden.“ Man müsse dieses Gut verteidigen. Ein Zurückweichen stärke die extreme Rechte.
In den Besuchern im vollen Gemeindesaal wusste Naujoks engagierte Mitstreiter in dieser Sache. Gerhard Jenders dankte dem Engagement im Rahmen der Flüchtlingshilfe in den vergangenen Jahrzehnten und rief zur Wahl auf. Zudem müsse weiter versucht werden, vor Ort für einen menschenwürdigen Umgang miteinander zu werben und diesen zu erreichen. Naujoks regte zudem an, sich an die kommunalen Verwaltungen zu wenden, um die Diskussion über die Nutzung der Bezahlkarte in die Räte zu bringen.
Hingewiesen wurde zudem auf eine Menschenkette, die am 8. Februar von den "Omas gegen Rechts" in Gummersbach organisiert wird. Informationen gibt es hier.
ARTIKEL TEILEN