JUNGE LEUTE

Schrubben gegen das Vergessen

lw; 12.06.2024, 17:56 Uhr
Fotos: Lars Weber --- Chiara Schabon (17) pflegt den Grabstein von Anna Bagatis. Gerhard Jenders hat herausgefunden, dass die Frau wohl eine landwirtschaftliche Arbeiterin aus Lettland war, die am 31.Oktober 1896 in „Sanka / Lettland“ geboren wurde. Als Wohnort ist im Sterbebuch das DP-Lager in Bonn-Oberkassel angegeben. Sie starb am 6. Mai 1946 im Alter von 49 Jahren in Denklingen an Lungentuberkulose.
JUNGE LEUTE

Schrubben gegen das Vergessen

lw; 12.06.2024, 17:56 Uhr
Reichshof – In der Klinik am Burgberg wurden nach dem Zweiten Weltkrieg rund 1.500 sogenannte „Displaced Persons“ behandelt – Fast 100 Grabplatten auf dem Denklinger Friedhof erinnern an die Gestorbenen - Die Gräber wurden nun von Gesamtschülern aus Eckenhagen gepflegt.

Von Lars Weber

 

Viele Jahrzehnte waren sie da, ohne dass jemand bewusst von ihnen Notiz nahm: Über 90 Grabplatten auf dem Denklinger Friedhof an der evangelischen Kirche. Erst durch einen Hinweis einer Bekannten nahm Gerhard Jenders, Vorsitzender des Vereins „Oberberg ist bunt, nicht braun“, die Recherchen auf, welche Schicksale sich hinter den oft osteuropäischen Namen verbergen – mit Erfolg. Nun soll die Geschichte dieser Frauen und Männer wieder Einzug finden ins kommunale Gedächtnis. Dafür hat sich Jenders zusammengetan mit der Gesamtschule Eckenhagen und der Gemeinde Reichshof. Am heutigen Mittwoch hat es einen Arbeitseinsatz auf dem Friedhof gegeben, wo Jenders die Geschichte erzählt hat und rund 15 Schüler die Grabplatten gereinigt haben.

 

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Die Menschen, die auf dem Denklinger Friedhof bis etwa 1951 begraben wurden, seien sogenannte „Displaced Persons“.  Darunter versteht man entwurzelte NS-Opfer, die KZ-Haft, Kriegsgefangenschaft oder Zwangsarbeit überlebt hatten und aus den verschiedensten Gründen nicht in ihre Heimat zurückkehren konnten, zum Beispiel weil es diese gar nicht mehr gab, oder auch weil sie krank geworden waren. „Vor allem Tuberkulose war verbreitet.“ Viele diesen Menschen, etwa 1.500, wie Jenders bei seinen Recherchen seit Anfang 2023 im lokalen Sterberegister, aber auch in den Archiven der Vereinten Nationen und des Arolsen-Archivs herausfand, wurden in Denklingen gepflegt.

 

Genutzt wurde dazu die Burgbergklinik, in der sich heute ein Seniorenheim befindet. „Die Besatzungsmächte fanden nach dem Krieg in der Region ein Chaos vor“, erzählt Jenders den Jugendlichen und Bürgermeister Rüdiger Gennies, der mit seiner allgemeinen Vertreterin Sarah Schmidt auf den Friedhof gekommen war. Nicht nur Häuser waren zerstört, sondern auch viele Menschen waren schwer gezeichnet. Die kranken, traumatisierten und entwurzelten Menschen mussten gesund gepflegt werden, um ihnen eine Rückkehr in die Heimat zu ermöglichen.

 

[Gerhard Jenders blickt auf die Geschichte der "Displaced Persons" zurück. Neben den Schülern waren auch Bürgermeister Rüdiger Gennies und seine allgemeine Vertreterin Sarah Schmidt auf den Friedhof gekommen. Bauhofleiter Ralf Mette unterstützte die Schüler bei der Aktion.]

 

Da kam die Klinik ins Spiel, die während des Krieges als Lazarett für die deutsche Luftwaffe genutzt worden war. Sie wurde beschlagnahmt und als Heilstätte insbesondere für Lungenkranke genutzt – zunächst bis Ende 1945 in Regie der US-Armee, danach unter Leitung der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration). Vielen Menschen sei dort das Leben gerettet worden. „Die Ärzte haben einen wahnsinnigen Einsatz gezeigt“, so Jenders. Jene 92 Menschen, die es nicht schafften, wurden auf dem Denklinger Friedhof begraben. Jenders ist bei seinen Recherchen tief abgetaucht und hat auch Schicksale hinter den Namen herausgefunden. Diese Geschichten sind online nachzulesen. 

 

Jenders wandte sich an die Gesamtschule in Eckenhagen und an die Gemeindeverwaltung, wo er offene Türen einrannte. Er erzählte die Geschichte in der Jahrgangsstufe 10 und auch die Q2 wurde eingebunden. Rund 15 Schüler meldeten sich freiwillig für den Arbeitseinsatz am Friedhof, um die Steinplatten von Moos und Schmutz zu befreien. In der Mache ist zudem eine Gedenktafel, die auf dem Friedhof, aber vielleicht auch noch am Rathaus und am jetzigen Seniorenzentrum auf die Vergangenheit hinweisen soll.

 

[Für sie war der Einsatz selbstverständlich (v.re.): Hanna Kertzel, Louisa Arnold, Sandy Schuster, Chiara Schabon und Luka Möller.]

 

Sie sei schon oft auf dem Friedhof gewesen und an den Steinplatten vorbeigegangen, erzählte die 17-jährige Sandy Schuster, während sie mit Wasser und Bürste ein Grab reinigt. Die Geschichte dahinter kannte sie natürlich nicht. „Jetzt, wo wir die Hintergründe kennen, werden wir die Gräber hier anders wahrnehmen.“ Die „Displaced Persons“ gehören zu der Geschichte des Landes und des Ortes, meinte Louisa Arnold (16). „Es ist wichtig, die Erinnerung an sie zu bewahren.“ Bürgermeister Gennies dankte den Schülern für ihren Einsatz. „Es ist eine wichtige zeitgeschichtliche Aufgabe, die Platten zu erhalten.“

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